Der Wald der Könige
er das wirklich? Sollte er Gorges helfen oder zulassen, dass die Spanier ihn überraschend angriffen? Niemand würde ihm jemals einen Vorwurf machen. Schließlich wusste kein Mensch, dass er hier war. Schlagartig traf ihn die schreckliche Erkenntnis, dass der Augenblick der Entscheidung gekommen war. Auf welcher Seite stand er?
Er hatte keine Ahnung.
So viel Zeit hatte er damit verbracht, seiner Mutter nach dem Mund zu reden und der Welt gegenüber die entgegengesetzte Meinung zu vertreten, dass er nicht mehr wusste, was er selbst eigentlich dachte. Hilflos starrte er aufs Wasser hinaus.
Das Schiff kam immer noch näher, allerdings sehr langsam. Vergeblich hielt er Ausschau nach weiteren Schiffen. Er wartete ab. Immer noch nichts. Dann schien die Galeone innezuhalten. Sie rührte sich nicht mehr. Albion schmunzelte. Gewiss war sie auf eine Sandbank aufgelaufen. Die Sandbänke da draußen konnten durchaus noch einem Dutzend weiterer spanischer Schiffe zum Verhängnis werden. Doch es ließen sich keine weiteren blicken.
Erleichtert seufzte Albion auf. Also brauchte er sich doch nicht zu entscheiden. Noch nicht.
Eine Stunde später zeigte sich im Osten das erste Tageslicht. Die Wolken verzogen sich. Der graue Horizont lag verlassen da. Weit und breit keine Spur von der Armada.
Inzwischen konnte Albion die Galeone deutlich erkennen. Er versuchte festzustellen, ob sich Menschen an Bord befanden, sah aber niemanden. Der Wind hatte sich gelegt, es wehte nur noch eine kaum merkliche Brise. Das Wasser rund um das Schiff war ruhig. Vielleicht gab es Überlebende. Wenn ja, hatten sie vermutlich die Strände jenseits von Keyhaven erreicht.
Er fragte sich, ob er sich nicht besser vergewissern sollte. Eine Bootsladung voller Spanier konnte gefährlich werden. Andererseits war er zu Pferde. Und er hatte ein Schwert. Nach einer Weile zuckte er mit den Achseln.
Die Neugier hatte die Oberhand gewonnen.
Don Diego sah sich aufmerksam um. Er war zwar klatschnass, hatte aber dennoch großes Glück gehabt. Das Schiff war nur etwa anderthalb Kilometer vor der Küste auf Grund gelaufen. Im Frachtraum hatte er rasch alles Nötige gefunden, um sich ein einfaches Floß und ein breites Ruder zu bauen. Dank der Flut hatte er den Strand noch vor Morgengrauen erreicht. Nachdem er das Floß versteckt hatte, war er die Sanddünen hinaufgestiegen und die Heide entlanggegangen. Doch eine Vorsichtsmaßnahme hatte er getroffen. Wie die meisten Adeligen, die die Armada begleiteten, trug er eine lange Goldkette um den Hals; ihre Glieder waren so gut wie bares Geld, und deshalb hatte er sie unter seinem Hemd und Wams versteckt. Dann hatte er versucht, sich einigermaßen ansehnlich herzurichten, seine Schuhe und Strümpfe gesäubert und sich so gut wie möglich Hose und Wams abgebürstet. Er wusste, dass die Engländer der spanischen Mode folgten. Allerdings konnte er nicht sagen, ob seine Englischkenntnisse ausreichen würden. Er hatte sich große Mühe gegeben, die Sprache zu erlernen, und seine Frau versicherte ihm stets, dass er sie gut beherrschte. Vielleicht konnte er so für einen englischen Adeligen durchgehen, der den Räubern in die Hände gefallen war – und würde nicht für einen schiffbrüchigen Spanier gehalten werden.
Vorsichtig schritt er voran, stets bereit, Deckung zu suchen, sobald sich jemand näherte. Aus den Karten auf dem Flaggschiff des Herzogs wusste er, wie die Landschaft an der Mündung des Solent beschaffen war. Und er kannte den Standort von Hurst Castle. Leider hatte er nicht die geringste Ahnung, wo Brockenhurst lag.
Don Diegos Plan war bestechend einfach. Zuerst einmal musste er vermeiden, von übereifrigen Milizionären ausgeraubt oder umgebracht zu werden. Und zweitens kam es darauf an, so schnell wie möglich einen bestimmten Mann zu finden. Dann würde er aller Sorgen ledig sein.
Er sah den einsamen Reiter schon aus einiger Entfernung, sprang hinter einen Ginsterbusch und hielt sich bereit.
Als Albion den Ginsterbusch fast erreicht hatte, ließ er sein Pferd Schritt gehen. Er hatte den Mann gesehen – offenbar war er allein – und beobachtet, wie er sich hinter dem Busch versteckt hatte. Die Hand am Schwert wartete er ab, was der Fremde als Nächstes unternehmen würde.
Er musste nicht lange warten.
Der zerraufte Spanier – dass es sich um einen solchen handelte, war unverkennbar – trat hinter seiner Deckung hervor und sprach Albion zu dessen Erstaunen in einem recht passablen Englisch
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