Der Wald der Könige
man sich der Meinung der größeren Hafenstädte an. Royalistische Adelige hatten versucht, die Insel Wight und Winchester für den König zu gewinnen, konnten ihre Stellung allerdings nicht halten. Doch da es im New Forest selbst keine wichtigen Städte gab, hatte man die Einwohner nicht weiter behelligt. Die einzige Änderung war, dass die königlichen Verwalter des Waldes seit dem Sturz der Regierung kein Gehalt mehr bezogen. Also bediente man sich – vom adeligen Förster bis hinunter zum einfachen Bauern – einfach selbst, sammelte Holz, jagte Hirsche und lebte von dem, was der Wald zu bieten hatte. Schließlich kannte man sich aus.
»Was soll der König jetzt noch dagegen haben?«, meinte Stephen Pride eines Tages vergnügt zu Alice.
Lisle fragte sich, ob die neue Regierung – ganz gleich, wie diese auch aussehen mochte – wohl Interesse am New Forest zeigen würde. Dann blickte er wieder zu den Männern hinüber, die in der Ferne über den Strand ritten. Wie war es möglich, überlegte er nun wohl schon zum hundertsten Mal, dass ein so kleiner und geistig unbedarfter Mann wie Karl I. ein Land in eine derart tiefe Krise hatte stürzen können?
Dass man in der Politik auch einmal Kompromisse schließen musste, war dem König völlig unbegreiflich geblieben. Halsstarrig hatte er an beim Parlament unbeliebten Ratgebern festgehalten, neue Steuern erhoben und katholische Kirchenfürsten begünstigt, die von der Bevölkerung abgelehnt wurden. Zu guter Letzt hatte er den streng calvinistischen Schotten seine Bischöfe aufgezwungen, die fanatische Anhänger der anglikanischen Hochkirche waren. Diese jüngste Wahnsinnstat hatte bei den Schotten bewaffneten Widerstand ausgelöst und dem Parlament Gelegenheit gegeben, seinen Willen durchzusetzen. Thomas Strafford, der allgemein verhasste Minister des Königs, wurde wegen Hochverrats hingerichtet, Erzbischof Laud in den Tower von London geworfen. Doch auch das hatte nichts genützt. Die Kluft zwischen den beiden Seiten war bereits zu tief. Also war es zu einem Krieg gekommen, in dem der König dank Oliver Cromwell und dessen »Rundköpfen« – aufständischen Londoner Lehrlingen – unterlegen war.
Doch selbst als Verlierer hörte Karl nicht auf, seine Widersacher gegeneinander auszuspielen. In Lisles Augen hatte das Scheitern des Königs in der letzten Schlacht bei Naseby das Fass zum Überlaufen gebracht. Beschlagnahmte Dokumente bewiesen zweifelsfrei, dass Karl I. beabsichtigte, wenn möglich eine Armee aus Irland oder aus dem katholischen Frankreich herbeizurufen, um sein Volk zu unterwerfen. »Wie sollen wir ihm glauben, dass er in England nicht wieder den Papismus einführt?«, hatte Lisle gefragt. Und als man ihn mit anderen Abgesandten zur Insel Wight geschickt hatte, um mit dem König zu verhandeln – man hatte den Monarchen dort gefangen gehalten, bevor man ihn in Hurst Castle einsperrte –, war ihm klar geworden, mit was für einem Mann er es zu tun hatte. »Er redet einem nach dem Mund, um Zeit zu gewinnen, denn er glaubt, dass er mit Gottes Gnaden regiert und uns deshalb nichts schuldig ist. Darin ist er wie seine Großmutter, Königin Maria von Schottland: Er wird immer weiter Ränke schmieden, bis man ihm den Kopf abschlägt.«
Und das war natürlich die Frage, die Alice und vielen anderen Zeitgenossen Sorgen bereitete. Denn hier schieden sich die Geister zwischen den kompromissbereiten Parlamentariern und den unnachgiebigen Militärs wie Cromwell, die fanden, dass der König sterben musste. Doch wie sollte man einen von Gott gesalbten König hinrichten? Niemand wagte sich die möglichen Folgen auszumalen.
Als Anwalt war John Lisle zu dem Schluss gelangt, dass man diesen König auf gesetzlichem Wege nicht loswerden konnte.
Denn die englische Verfassung war ziemlich uneindeutig formuliert. Altes Gewohnheitsrecht, Sitten, Präzedenzfälle hatten, ebenso wie Wohlstand und Einfluss der betroffenen Personen, die Politik in jeder Generation bestimmt. Das Parlament hatte voll und ganz Recht mit der Behauptung, es sei seit der Regierungszeit von Eduard I. also seit fast vierhundert Jahren, stets zu Rate gezogen worden. Und auch ein König konnte sich auf juristische Quellen berufen, wenn er das Parlament nach Belieben einsetzte und wieder auflöste. Allerdings irrte das Parlament, als es sich auf der Suche nach einem geschriebenen Gesetzestext auf die Magna Charta berief, denn es handelte sich bei dieser Urkunde um eine Vereinbarung zwischen König
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