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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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würde, und er empfahl Gott seine Seele.
    Dann trat einer der Männer des Sheriffs vor, stülpte seinem Vater eine Kappe über den Kopf und schob ihm das Haar darunter. Er sah den Henker an, und dieser nickte.
    Nun gingen sie zum Block. Sein Vater kniete nieder, küsste den Block, wandte sich anschließend zum Henker um und sagte etwas zu ihm. Der Henker hielt ihm die Axt hin, die er ebenfalls küsste. Die Menge war totenstill. Oberst Penruddock sagte noch etwas, das Thomas nicht verstehen konnte, und drehte sich wieder zum Block um. Schweigen. Er legte den Kopf darauf.
    Es war sein letzter Augenblick. Thomas wollte schreien. Warum hatte er so lange gewartet, bis alles ruhig war? Er wünschte, er hätte etwas gerufen, auch wenn sein Vater dann wusste, dass er ihm nicht gehorcht hatte. Er wollte ihm zeigen, dass er bei ihm war und dass er ihn liebte. War es zu spät? Sollte er es noch tun? Er hatte schreckliche Angst vor dem Abschied. »Vater!«, wollte er rufen. »Vater!« Er holte Luft.
    Der Kopf seines Vaters lag auf dem Block. Thomas öffnete den Mund. Kein Ton kam heraus. Die Axt sauste hinab.
    »Vater!«
    Er sah eine rote Fontäne und wie der Kopf seines Vaters mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel.
     
     
    In den Jahren nach Penruddocks Aufstand fand Alice Lisle keinen Frieden mehr. Oberflächlich betrachtet machte es den Eindruck, als ob es ihr an nichts fehlte. Ihr Mann kam beruflich gut voran. Sie hatten in London ein hübsches Haus in einer ruhigen Vorstadt am Fluss erworben, die Chelsea hieß. Cromwell und dessen Familie standen ihr nah, sie gehörten derselben puritanischen Gemeinde an. Die Familie Cromwell kaufte sogar ein Gut in der Nähe von Winchester, unweit eines der stattlichen Herrensitze, die John Lisle in diesem Teil des Landes besaß. Die Lisles waren reich. Als Cromwell das Oberhaus einrichtete, hatte er auch John Lisle zum Mitglied ernannt. Nun konnte sich der Anwalt Lord Lisle nennen, und Alice trug den Titel Lady.
    Dennoch fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut. Der Protektor herrschte uneingeschränkt im Land. Seine Armee hatte Schottland und Irland bezwungen. Englands Handelsflotte beherrschte die Weltmeere. Noch nie hatte das englische Weltreich größeren Einfluss genossen. Und dennoch empfand Alice zuweilen dasselbe Unbehagen wie damals an jenem grauen Wintertag, als ihr Mann nach London geritten war, um den König hinzurichten.
    Denn leider lag in England einiges im Argen, was Alice zuweilen deutlicher erkannte als ihr Mann. Immer wenn man im Parlament oder in der Armee keine Einigkeit erzielen konnte, kehrte ihr Mann mit einem neuen Gesetzesentwurf nach Hause, mit dem er und seine Freunde eine Lösung herbeiführen wollten. »Diesmal schaffen wir Klarheit«, verkündete er dann, und ihr blieb nichts anderes übrig, als wortlos zu nicken und den Mund zu halten. Und wie vorauszusehen, kam es einige Monate später zur nächsten Krise, und man entschloss sich erneut zu einer anderen Regierungsform. Die Monate nach Penruddocks Aufstand waren die schlimmsten gewesen. Um weitere Volkserhebungen zu verhindern, hatte Cromwell das Land in Dutzende von Bezirken eingeteilt und jedem einen Generalmajor vorangestellt, der nach Kriegsrecht regierte. Das einzige Ergebnis dieser Maßnahme war, dass der Hass der Bevölkerung auf die Armee wuchs; selbst Cromwell musste nach einer Weile nachgeben. Doch die Frage blieb immer dieselbe: Diktatur oder Republik? Zivile oder militärische Gesetzgebung? Regierung durch den Adel oder durch das Volk? Und da man keine Entscheidung traf, nahm die Unzufriedenheit zu. Dass Cromwell mit Notbehelfen experimentierte, brachte Alice ins Grübeln. Was würde übrig bleiben, wenn Cromwell nicht mehr war? Das wusste niemand, nicht einmal ihr kluger Mann.
    Und noch etwas anderes bereitete ihr Magendrücken. »Alles, was wir tun, John«, pflegte sie zu sagen, »hätten wir genauso gut auch lassen können, solange es nicht zu einer gerechten, gottgefälligen Regierung führt.«
    »Genau das versuchen wir ja, Alice«, erwiderte er gereizt. »Wir schaffen eine gottgefällige Regierung.«
    Stimmte das wirklich? O ja, das Parlament erließ strenge Gesetze. Ehebruch wurde jetzt sogar mit dem Tode geahndet – nur, dass die Geschworenen sich angesichts dieser übertrieben harten Strafe weigerten, die Angeklagten schuldig zu sprechen. Fluchen, Tanzen und sämtliche Belustigungen, an denen die Puritaner Anstoß nahmen, wurden verboten. Einige der Generalmajore hatten sogar den

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