Der Wald der Könige
das Schreiben, wenn auch ein wenig unvermittelt, ein zärtliches und gefühlvolles Ende:
Deshalb zehntausendmal adieu, mein Liebster! … Deine Kinder erbitten deinen Segen und versprechen, dir niemals Schande zu machen.
Als sie die Feder aus der Hand legte, war es schon elf Uhr, doch ein Bursche war gegen ordentliche Bezahlung bereit, den Brief zum Gefängnis zu bringen. Kurz nach Mitternacht kehrte er mit einem kurzen, liebevollen Antwortschreiben des Oberst zurück.
Erst gegen Morgengrauen schlief Thomas endlich ein.
Es wäre wohl nie so weit gekommen, wenn Mrs. Penruddock pünktlich gewesen wäre. Sie hatte sich wirklich bemüht. Doch um acht Uhr wartete die Kutsche bereits seit fast einer Stunde im fahlgrauen Morgenlicht vor der Tür des Gasthofes.
Sie hatte fest vor abzureisen. Nicht nur aus Gehorsamkeit gegenüber ihrem Mann, sondern um diesen Ort endlich zu verlassen. Sie wollte sich und natürlich auch ihre Kinder gegen dieses schreckliche Ereignis abschotten, diesen Verlust, an den sie nicht zu denken wagte. Also zögerte sie die Abfahrt nicht absichtlich hinaus. Doch zuerst wurde ein Gegenstand vermisst, dann ein anderer. Schließlich musste die jüngste Tochter sich ausgerechnet an diesem Morgen erbrechen. Inzwischen hatte Mrs. Penruddock vor lauter Aufregung ihren Geldbeutel verlegt, und es kam zu einem Auftritt mit dem Wirt, der ihr vorwarf, sie wolle die Zeche prellen. Daraufhin warnte sie ihn, ohne nachzudenken, sie werde es ihrem Mann erzählen, wenn er nicht gleich seine Zunge im Zaum hielte. Als er sie merkwürdig ansah, wurde ihr zu ihrem Entsetzen klar, dass sie in wenigen Minuten keinen Mann mehr haben würde – und vielleicht auch nicht mehr das Geld, um Wirte zu bezahlen. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, doch dann regten sich ihre Lebensgeister wieder. Es gelang ihr, sich zu fassen und sich daran zu erinnern, wo sie ihren Geldbeutel hingelegt hatte. Und als es vom nah gelegenen Kirchturm zehn Uhr schlug, zählte sie ihre Kinder ab und scheuchte sie endlich in die Kutsche. Dann rief sie nach Thomas. Doch ihr Sohn war verschwunden.
Willenlos ließ er sich in der Menschenmenge die Straße entlangtreiben, die vermutlich zum Hinrichtungsplatz führte. Denn da er noch in der Stadt war, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seinen geliebten und vergötterten Vater noch ein letztes Mal zu sehen.
Als er den Platz erreichte, wimmelte es dort von Menschen. Er kam keinen Schritt mehr voran. Außerdem hätte er es sowieso nicht gewagt, sich nach vorne zum Schafott vorzudrängen, denn schließlich hatte sein Vater es ihm streng verboten.
Doch er entdeckte einen Wagen, auf dem bereits ein paar Lehrlinge und andere Jungen standen. Von dort aus hatte man einen guten Blick.
In der Mitte des Platzes war eine Plattform errichtet worden. Einige Reiter erschienen, gefolgt von einem Karren, der von Soldaten mit Musketen und Piken bewacht wurde. Und auf diesem Karren, in einem sauberen weißen Hemd, das lange braune Haar zurückgebunden, stand sein Vater.
Zuerst bestieg der Sheriff die Plattform, dann kamen zwei weitere Männer und der Scharfrichter, der eine schwarze Maske trug. Seine Axt funkelte silbrig. Schließlich wurde sein Vater hinaufgeführt.
Man vergeudete keine Zeit. Mit lauter Stimme verlas der Sheriff das Todesurteil wegen Hochverrats. Sein Vater trat mit dem Henker auf den Block zu und richtete das Wort an den Sheriff, der nickte. Dann wich der Henker zurück, während sein Vater ein Stück Papier aus der Tasche zog und den Inhalt kurz überflog. Darauf ließ er den Blick ruhig über die Menge schweifen und begann zu sprechen.
»Gentlemen«, hallte seine Stimme über den Platz, »es ist Sitte, dass ein Mensch, der hingerichtet werden soll, Gelegenheit erhält, öffentlich zu dem ihm vorgeworfenen Verbrechen Stellung zu nehmen. Die Straftat, für die ich nun sterben muss, ist Königstreue, heutzutage Hochverrat genannt. Ich kann nicht abstreiten…«
Seine Rede war sehr lang, aber gut verständlich. Die Menge verhielt sich recht ruhig, aber Thomas konnte dennoch nicht alles hören. Allerdings begriff er, worum es ging. Sein Vater wollte etwas dazu sagen, wie er behandelt worden war. Außerdem wollte er andere, vor allem die Mitglieder des Sealed Knot, von allem Verdacht befreien. Er tat das in klaren, gut abgesetzten Worten. Seine Ansprache schloss er mit der Hoffnung, dass England eines Tages wieder von seinem rechtmäßigen König regiert werden
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