Der Wald der Könige
Jahreszeit zu wählen.
Allerdings war John Lisle einem Irrtum aufgesessen, als er meinte, man würde ihn nicht mit den Königsmördern über einen Kamm scheren. Während er in der Schweiz auf Nachricht wartete, wurde eines klar: Er hatte zu viele Feinde.
»Mein geliebter Mann«, schrieb Alice ihm traurig. »Du kannst nicht zurückkommen.«
Jedes Jahr überlegte sie, ob sie ihm nach Lausanne folgen sollte, wo er inzwischen lebte. Doch das war nicht so leicht. Zuerst einmal hatte Alice nur wenig Geld. Der Großteil von John Lisles Vermögen war beschlagnahmt oder anderweitig eingezogen worden. Eines seiner Güter hatte ein dem Royalismus treu ergebener Verwandter auf der Insel Wight erhalten. Ein anderes bekam James, Herzog von York, der jüngere Bruder des Königs. Das große Familienhaus in London gab es auch nicht mehr. Nun musste Alice die Familie mit ihrem Erbe im New Forest ernähren und außerdem Geld an ihren Mann schicken.
»Wir dürfen nicht auffallen«, sagte sie ihren Kindern. Und da sie sich um ihre Güter und die Familie kümmern musste, war an eine Übersiedlung in die Schweiz nicht zu denken.
Und die Familie war ziemlich groß. Zuerst einmal gab es da Johns Söhne aus erster Ehe, die inzwischen zu jungen Männern herangewachsen waren. Alice hatte sie stets behandelt wie ihr eigen Fleisch und Blut. Nun hatte ihr Vater sein Vermögen und seinen guten Namen verloren. Wie sollten sie da eine gute Partie machen? Zu ihrer großen Trauer starb Alices eigener Sohn im Alter von sechzehn Jahren. Doch die drei Töchter, Margaret, Bridget und Tryphena, mussten ebenfalls unter die Haube kommen.
Und dann hatte sie noch die kleine Betty, ein zierliches, vor Leben strotzendes Mädchen mit strahlenden Augen. Sie war in der Nacht vor Johns Abreise gezeugt worden, als Alice sich an ihn geklammert und voller Angst um seine Rückkehr gebetet hatte. Die kleine Betty, die John Lisle nie kennen lernen sollte, das Kind, das Alice an ihn erinnerte.
Zwei Jahre vergingen. Dann eines und noch eines. Aus dem Säugling war ein kleines Mädchen geworden, das laufen und sprechen konnte und das nach seinem Vater fragte. Alice erzählte ihrer Tochter von ihm und davon, was für ein wunderbarer Mann er sei.
»Eines Tages gehe ich zum König und sage ihm, dass ich meinen Vater wieder haben will«, verkündete die Kleine. Und wer konnte das wissen, dachte Alice. Da der König ein leutseliger Mann war, würde diese Strategie vielleicht sogar Erfolg haben. Doch nicht jetzt. Es war noch zu früh. Also schrieb sie ihrem Mann und schilderte ihren Alltag und Bettys Entwicklung in sämtlichen Einzelheiten. John Lisle schickte lange, liebevolle Briefe. Sie beide hofften, dass Gras über die Sache wachsen würde, damit er zurückkehren konnte – eines Tages.
Was sollte Alice in der Zwischenzeit tun? Sie war froh, wenigstens hier im New Forest zu leben, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte und woher ihre Familie stammte. Durch Betty erinnerte sie sich an frühere glückliche Tage und fand so ein bisschen Trost. Außerdem hatte sie immer alle Hände voll zu tun. Doch wie sollte sie die andere Lücke in ihrem Leben füllen?
Zu ihrer Überraschung half ihr die Religion dabei.
Vor ihrer Ehe war sie nie sehr fromm gewesen. Natürlich hatten John und sie als Stützen ihrer Gemeinde in London fungiert, doch sie fragte sich inzwischen, ob das nicht hauptsächlich an dem Wunsch ihres Mannes gelegen hatte, eine möglichst enge Freundschaft mit Cromwell und dessen Familie zu pflegen. Ihre neue Gläubigkeit jedoch hatte völlig andere Ursachen und kam ziemlich unerwartet.
Der Wandel hing mit Stephen Prides Frau zusammen. Es war ungewöhnlich, dass ein Pride jemanden von außerhalb des New Forest heiratete, aber eines Tages hatte die Familie den kleinen Markt in Lymington besucht, und dort hatte Stephen Pride seine zukünftige Frau kennen gelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Joans Familie war vor einigen Jahren aus Portsmouth hierher gezogen. Sie war ruhig, freundlich, etwa in Alices Alter und hatte braunes Haar und wie sie graue Augen. »Er sagt, er hätte mich geheiratet, weil ich ihn an Euch erinnere«, gestand Joan Pride ihr einmal. Wider Willen freute sich Alice darüber.
Joan Pride war sehr fromm. Wie so viele andere brave Leute in den Kleinstädten an Englands Küsten hatte sie das Lesen zur Zeit von Königin Elisabeth gelernt und in der Bibel nichts über Bischöfe, Priester und Zeremonien gefunden. Deshalb versammelte man sich lieber
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