Der Wald der Könige
Französischkenntnisse waren für die Kaufmannstöchter von Lymington gewiss nicht von Nachteil, wenn sie in Londoner Herrschaftshäusern oder an den Höfen Europas bestehen wollten. Dass man so auch Konversation mit den charmanten, jungen französischen Offizieren betreiben konnte, die seit einiger Zeit in der Stadt stationiert waren, bedeutete einen weiteren Anreiz.
Außerdem wurde auch noch Kunstunterricht erteilt. Reverend William Gilpin war nicht nur seit zwanzig Jahren der allseits geliebte und geachtete Vikar von Boldre, sondern auch ein anerkannter Künstler, der hin und wieder seine Zeichnungen und Gemälde für wohltätige Zwecke verkaufte. Mrs. Grockleton hatte zwei davon erworben. Und als Mr. Gilpin kurz darauf an der Akademie einige Preise verteilte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass die jungen Damen dazu ermutigt wurden, seine Werke nachzuahmen oder sogar zu kopieren. Der Vikar war kein Narr. Doch nach diesem Erlebnis fiel es ihm schwer, das Angebot abzulehnen, einmal im Monat einen Vortrag oder einen Kurs an der Akademie zu halten. Und offen gestanden hatte er große Freude daran.
So wurde Mrs. Grockletons Institut immer größer. Und wie sie es beabsichtigt hatte, zogen ihre Bemühungen immer weitere Kreise. Auf die Töchter der besseren Familien in der Stadt folgten die der Adeligen aus der Umgebung. Auf gewundenen Pfaden – ähnlich den Gängen im Haus einer Tritionschnecke – wurden schließlich auch junge Damen aus noch entfernteren Herrensitzen sanft in den Schoß der Akademie gelockt. Inzwischen belegte Miss Fanny Albion gemeinsam mit ihrer Cousine Louisa Totton Französisch – ein Triumph, der die ehrgeizige Gründerin der Akademie mit großer Freude erfüllte. Und gewiss würden andere diesem Beispiel folgen. Nur eine Familie hatte Mrs. Grockletons Anwerbungsversuchen bis jetzt hartnäckig widerstanden: die Burrards.
Diese genossen inzwischen eine hohe Stellung in Lymington, hatten sie doch schon vor langer Zeit ein Landgut namens Walhampton am Flussufer gegenüber von Lymington erworben. Nachdem sie seit vielen Generationen in adelige Familien wie die der Buttons eingeheiratet hatten, konnten sie sich nun selbst zu dieser Schicht zählen. Allerdings betrieben sie ihre Geschäfte noch immer von Lymington aus, und sie bestimmten auch die Politik in der Stadt. Bis jetzt war es Mrs. Grockleton noch nicht gelungen, auch nur das Parktor der Burrards zu durchschreiten. Doch sie war überzeugt davon, dass sich auch dieser Traum irgendwann erfüllen würde.
Die Akademie war nur als Anfang gedacht, denn die ehrgeizige Dame hatte noch größere Pläne. »Ich sehe es deutlich vor mir, Mr. Grockleton«, verkündete sie. Und das konnte man in gewisser Weise wörtlich nehmen. Von dem Hügel oberhalb der Pennington Marshes und des Meeres konnte man zahlreiche stattliche georgianische Häuser und Villen erblicken. Die mittelalterlichen Häuser an der High Street waren zwar noch gut in Schuss, hatten aber inzwischen fast alle glatte georgianische Fassaden. Mrs. Grockleton glaubte, dass sich die letzten mittelalterlichen Giebel sicher leicht verkleiden ließen. Die bescheidene Badeanstalt unten am Strand wollte sie in ein Ebenbild der römischen Bäder umwandeln. Selbstverständlich würden die Versammlungsräume neben dem Angel Inn überhaupt nicht zu dieser neuen Sommerfrische passen. Ein neues, prächtigeres Gebäude im klassischen Stil oben auf dem Hügel war also unabdingbar, natürlich ganz in der Nähe von Mrs. Grockletons eigenem Haus.
Und dann war da auch noch das Theater, das über einen schlichten Zuschauerraum mit Holzbänken für die einfachen Leute, ein paar Logen für den Adel und eine Empore mit den billigeren Plätzen verfügte. In der Saison von Juli bis Oktober wurden dort Shakespeare, eine von Mr. Sheridans Komödien und ein breites Repertoire von Lustspielen, Melodramen und Tragödien gegeben. Wenn die Stadt erst einmal in Mode kam, würde man ganz sicher auch das Theater renovieren müssen. Mrs. Grockleton bedauerte nur, dass es genau neben der Baptistenkirche stand, einem Gebäude, das ihrer Ansicht nach das Auge der besseren Gesellschaft beleidigte.
Doch der schlimmste Stein des Anstoßes befand sich ihrer Meinung nach unten am Strand. Die Salzgärten mit ihren schmutzigen kleinen Kaminen und den windbetriebenen Pumpen und der Kai, wo die Schiffe aus dem nördlichen Newcastle die Kohle – ausgerechnet Kohle! – abluden, um besagte Kamine zu beheizen. Man musste etwas
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