Der Wald der Könige
hier ist die beste«, lobte Reverend William Gilpin. Mit einem erfreuten Lächeln steckte Fanny Albion ihre Zeichnungen zurück ins Skizzenbuch. Sie war derselben Ansicht.
Sie saßen am Fenster der Bibliothek im Pfarrhaus – einem großen georgianischen Gebäude, vor dessen Tür eine hohe Buche wuchs.
Der Vikar von Boldre war ein stattlicher alter Herr. Vielleicht ein wenig korpulent, aber breitschultrig. Er und die Erbin von Haus Albion waren einander sehr zugetan. Der würdige Kirchenmann war ein Mensch, den man einfach gern haben musste. Und er fand, dass Fanny, die er selbst getauft hatte, eine sehr reizende junge Dame war – immer gütig und rücksichtsvoll und außerdem lebensfroh, klug und künstlerisch recht begabt. Er genoss ihre Gesellschaft. Ihr helles Haar hatte einen leicht rötlichen Schimmer, ihre Augen waren von einem strahlenden Blau, und sie hatte eine reine Haut. Wäre er dreißig Jahre jünger und nicht glücklich verheiratet gewesen, hätte er – wie er sich selbst offen eingestand – Fanny Albion wohl einen Heiratsantrag gemacht.
Bei ihrer Zeichnung handelte es sich um eine Ansicht des New Forest, ein Blick von der Heide von Beaulieu an Oakley vorbei über ein vom Dunst verschleiertes Meer zur entfernten Insel Wight. Eine Arbeit, die Talent bewies. Den Erdboden – in Wirklichkeit nur leicht gewellt – hatte Fanny klugerweise erhöht und eine einsame Eiche hinzugefügt. Und sie hatte Recht gehabt, den kleinen Ziegelofen in der Nähe wegzulassen. Heide und Wald wirkten wohl geordnet und dennoch sehr natürlich, die See hatte etwas Geheimnisvolles an sich, das dem Auge schmeichelte. Die Zeichnung war – und das war das höchste Lob, das der Reverend zu vergeben hatte – ausgesprochen pittoresk.
Denn wenn es eine irdische Angelegenheit gab, an die Reverend William Gilpin glaubte, war es die Bedeutung des Pittoresken. Sein Traktat zu diesem Thema hatte ihn berühmt gemacht und stieß allerorten auf Bewunderung. Auf der Suche nach dem Pittoresken war er quer durch Europa gereist, hatte die Schweizer Berge, die Täler Italiens und die Flüsse Frankreichs besucht und dort gefunden, was er suchte. Auch in England gebe es, wie er seinen Lesern versicherte, pittoreske Landschaften, wobei besonders der Lake District im Norden hervorzuheben sei.
Die georgianische Ära war eine Zeit der Ordnung. Die großen Landhäuser der Adeligen im griechisch-römischen Stil zeugten vom Sieg des vernünftigen Menschen über die Natur. Man pochte auf guten Geschmack. Riesige Parks, angelegt von dem Gartengestalter Lancelot Capability Brown, mit ausgedehnten Rasenflächen und sorgfältig platzierten Wäldern bewiesen, dass der Mensch – sofern er über ein hübsches Vermögen verfügte – der Natur durchaus ein wenig Anmut beibringen konnte. Doch als das Zeitalter der Aufklärung voranschritt, schwand die Bereitschaft der Menschen, sich ihrem strengen Diktat zu beugen. Und so hatte Browns Nachfolger, der geniale Repton, begonnen, die kahlen Parks mit Blumengärten und idyllischen Spazierwegen zu ergänzen. Allmählich betrachtete man die Natur nicht mehr als gefährliches Durcheinander, sondern als freundliche Schöpfung Gottes. Man ging außerhalb der Parks spazieren und begab sich auf die Suche nach dem Pittoresken, wie Gilpin es forderte.
Nach Ansicht des Reverend gab es eindeutige Kriterien, nach denen man es erkennen konnte. Alles war eine Frage des Stils. Das flache, kultivierte Avontal gefiel ihm nicht. Aus demselben Grund konnte er den geordneten Abhängen der Insel Wight ebenfalls nur wenig abgewinnen. Aus der Ferne betrachtet mochten ihre blau schimmernden Umrisse ja beeindruckend wirken, doch dieser Eindruck änderte sich schlagartig, wenn man mit dem Boot hinüberfuhr und sie sich aus der Nähe ansah. Baumlose Heiden, so wild sie auch waren, langweilten den Kirchenmann. Nur das Wechselspiel zwischen Wald, Heide, Berg und Tal war ein sicheres Zeichen, dass der liebe Gott bei der Erschaffung der Welt eine glückliche Hand gehabt hatte. Bei einem solchen Anblick lächelte Reverend William Gilpin seine Schülerin an und sagte mit tiefer, sonorer Stimme: »Das ist aber wirklich pittoresk, Fanny.«
Mit ihrer folgenden Bemerkung bereitete sie ihm eine noch größere Freude als mit ihrer Zeichnung. Denn sie blickte eine Weile nachdenklich aus dem Fenster und meinte dann: »Haben Sie jemals daran gedacht, dass wir neben Haus Albion eine Ruine bauen könnten?«
Wenn es etwas auf Erden gab, das Mr. Gilpin
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