Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd

Vom Netzwerk:

das macht Männer kühn. Und zu guter Letzt hat er alles verloren und musste fliehen.«
    »Doch was ist mit richtig oder falsch, Mutter? Spielt das denn gar keine Rolle?«
    »O doch, mein Kind. Natürlich. Daran besteht kein Zweifel. Allerdings gibt es da noch etwas, das ebenso wichtig ist. Und je älter ich werde, desto mehr gewinnt es für mich an Bedeutung.«
    »Und das wäre?«
    »Gottes Geschenk an Salomon, Betty: die Weisheit.«
    »Ah, ich verstehe.«
    »Heirate Peter nur, wenn ihr beide ein wenig Weisheit gewonnen habt.« Liebevoll lächelte Alice ihre Tochter an. »Du wirst überrascht sein, wie leicht es ist, Gutes zu tun, wenn man weise ist.«
    »Bestimmt bist du sehr weise, Mutter.«
    Alice lachte leise auf. »Was für ein Glück, da ich ja heute Nachmittag den Kopf verlieren soll.«
    Eine Weile schwiegen sie, und jede versank in ihren trüben Gedanken.
    Schließlich ergriff Tryphena das Wort. »Es heißt«, sagte sie leise, »dass das Leben nicht sofort erlischt, wenn einem der Kopf abgeschlagen wird. Das Bewusstsein bleibt noch für einen Moment erhalten.«
    Niemand erwiderte etwas darauf. Sie saßen gedankenverloren da.
    »Ich danke euch, meine Lieben«, meinte Alice nach einer Weile ruhig. »Ihr seid mir ein großer Trost.«
    Wieder herrschte eine Zeit lang Stille, bis Alice sich langsam erhob. »Ich bin jetzt bereit, mein Leben zu beenden, meine lieben Kinder. Ich habe nichts mehr zu sagen. Lasst mich euch umarmen, und dann geht. Ich bin ein wenig müde.«


    Man hatte ein Schafott auf Winchesters altem Marktplatz errichtet. Die halbe Stadt und viele Bewohner des New Forest hatten sich versammelt. Auch die Prides waren gekommen. Die Gebrüder Furzey ebenfalls, doch die Prides zeigten ihnen die kalte Schulter.
    Als Alice aus dem Gefängnis gebracht wurde, sah die Menge erschrocken, wie bleich und gebrechlich sie wirkte. Das inzwischen völlig ergraute Haar hatte man ihr hoch gesteckt, sodass ihr magerer, recht runzeliger nackter Hals zu sehen war. Alice verzichtete auf das Recht, noch einmal das Wort an die Anwesenden zu richten.
    In Wahrheit fühlte sie sich wie betäubt. Als zwei hoch gewachsene Soldaten sie in die Mitte genommen hatten, um sie hinauszuführen, hatte sie die Angst übermannt.
    Doch nun hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben, wie ein Tier, das sich am Ende einer langen Hetzjagd damit abfinden muss, dass es in der Falle sitzt. Das Spiel war aus.
    Alice fühlte sich müde, und sie sehnte nur noch das Ende herbei, auch wenn sie den Schmerz fürchtete.
    Auf dem Weg zum Schafott nahm sie die Gesichter um sich herum kaum wahr. Sie sah weder Betty noch die Prides, geschweige denn die Furzeys oder gar Thomas Penruddock, der mit ernster Miene ein wenig abseits auf seinem Pferd saß.
    Als man sie niederknien ließ, erblickte sie den Block vor sich, bemerkte die Axt aber kaum. Sie erkannte nur die derb zusammengenagelten Bretter, auf denen der Block stand, als man ihren Hals darüber legte.
    Die Axt sauste herab, und sie fühlte einen heftigen Schlag.
    Gewiss war es ein Sommertag gewesen, als sie den Pfad entlanggingen und in einen Waldweg einbogen.
    Die Strahlen der Sonne fielen schräg durch das grüne Blätterdach, und die Schösslinge im Unterholz breiteten die Blätter aus, sodass sie an einen grünen Schleier erinnerten. Vögel sangen. Vor lauter Glück fing sie zu hüpfen an, und ihr Vater hielt ihre Hand.

ALBION PARK



    1794

    Es bestand kein Zweifel: Lymington, ja, dem ganzen New Forest standen große Ereignisse bevor.
    »Und wenn man bedenkt«, sagte Mrs. Grockleton zu ihrem Mann, »dass der reiche Mr. Morant in Brockenhurst Park lebt und Mr. Drummond jetzt Cadland bewohnt und Miss…« Der Name wollte ihr nicht mehr einfallen.
    »Miss Albion?«
    »Ja, natürlich, Miss Albion, die sicher eine reiche Erbschaft…«
    Gewiss hatte der Schöpfer im Himmel sich etwas dabei gedacht, als er Mrs. Grockleton nicht nur mit einem unstillbaren Hunger nach gesellschaftlichem Aufstieg, sondern auch mit einer gehörigen Portion Vergesslichkeit bedacht hatte. Erst vor einer Woche hatte sie einem durchreisenden Geistlichen ihre Kinder vorgestellt, verkündet, sie habe insgesamt fünf, und sie alle beim Namen genannt. Ihr Mann hatte sie dezent darauf hinweisen müssen, dass es in Wahrheit sechs waren, worauf sie ausrief: »Ja, aber natürlich. Der liebe kleine Johnny war mir ganz entfallen.«
    Ungeachtet ihres Ehrgeizes war Mrs. Grockleton jedoch nicht böswillig. Sie hatte einige