Der Wald der Könige
Lymington entlang.
In Größe und Form hatte sich die Stadt seit dem Mittelalter kaum verändert. Doch inzwischen verfügten fast alle Häuser an dem breiten Abhang über georgianische Fassaden. Manche beherbergten Läden mit Bodenfenstern.
Als er am Angel Inn vorbeikam, begrüßte ihn der Wirt, Mr. Isaac Seagull, der in der Tür stand, mit einer Verbeugung und einem Lächeln. Grockleton blickte sich um. Auch die Wirtin des Nag’s Head gegenüber war draußen und lächelte ihm zu.
»Guten Morgen, Mr. Grockleton.«
Grockleton bemerkte, dass das Wirtshausschild des Nag’s Head mit einem leichten Knirschen in der Meeresbrise hin und her schwankte. War es Zufall, oder blieben die Leute auf der Straße wirklich stehen? Nur seine Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider. Alle anderen Einwohner der Stadt hielten inne und starrten ihn an. Hundert Gesichter, wie bemalte Masken bei einer Prozession oder Vermummte im Karneval. Was mochte sich hinter ihrem höflichen Lächeln verbergen?
Sein schwarzer Gehrock, die gestärkte Halsbinde, die weiße Kniehose, all das fühlte sich plötzlich an wie gehärteter Mörtel und hinderte Grockleton in seinen Bewegungen. Sein hoher, breitkrempiger Hut erschien ihm schwer wie Blei, als er ihn am Buchladen vor einer Dame lüpfte.
Ihm war klar, was die freundlichen Gesichter zu bedeuten hatten. Die ganze Stadt war bereits im Bilde.
In der vergangenen Nacht hatte wieder eine Schmuggelfahrt stattgefunden – und er, Grockleton, war der Zollinspektor.
Schon viele Jahrhunderte lang schafften die Wollschmuggler von Lymington illegal Wolle aus England heraus. Inzwischen jedoch ging es nicht mehr um die Ausfuhr, sondern um die Einfuhrzölle. Und genau da lag das Problem.
Das Geschäft hatte gewaltige Ausmaße angenommen. Immer mehr Waren wurden eingeführt: Seide, Spitze, Perlen, Baumwollstoffe, Weine, Obst, Tabak und Schnupftabak, Kaffee, Schokolade, Zucker und Gewürze – die Liste war ellenlang. Mittlerweile mussten fünfhundert verschiedene Handelsgüter versteuert werden. Und am meisten Zoll verlangte der Staat für die beiden Dinge, ohne die die Engländer nicht leben zu können glaubten und deren Verlust sicher dazu führen würde, dass ihre Insel in den Wogen versank: Tee und Brandy.
»Es ist dumm von den Leuten, auf die Zölle zu schimpfen«, beklagte Grockleton sich häufig bei seiner Frau. »Schließlich werden damit die Kriegsschiffe bezahlt, die unseren Handel schützen.«
»Ich halte das auch für unvernünftig«, stimmte Mrs. Grockleton zu.
Doch ganz gleich, wie man auch darüber denken mochte, Zollvermeidung war ein beliebter Zeitvertreib und das Schmuggeln weit verbreitet. Da es den Zollbeamten oblag, diesen Brauch zu unterbinden, erfreuten sie sich keiner großen Beliebtheit. Der oberste Steuereinnehmer der Region hatte seinen Sitz in Southampton. Grockleton, sein direkter Untergebener, war für Lymington zuständig. Ein weiterer, rangniederer Beamter versah seinen Dienst an der Küste in Christchurch.
Die Zollinspektoren verfügten über schnelle Segelkutter, mit denen sie die Schmuggelboote abfangen sollten. Alle sechs Kilometer patrouillierten berittene Offiziere die Küste. Am Hafen kontrollierten Wachen die ankommenden Schiffe. Eichspezialisten überprüften Fässer, alle Waren wurden gewogen und geprüft.
Zollinspektoren wie Grockleton waren fast immer Ortsfremde, damit sie sich niemandem in der Stadt verpflichtet fühlten. Häufig handelte es sich um Beamte, die zuvor bei einer anderen Behörde tätig gewesen waren. Das Salär war zwar bescheiden, doch man gestand dem Beamten einen ordentlichen Anteil an der beschlagnahmten Schmuggelware zu. Man hätte meinen können, dass dieser Umstand die Wachsamkeit förderte. Aber wie Grockleton wusste, hatte der Zollinspektor in Christchurch seine berittenen Männer angewiesen, ihre Erkundungsritte einzustellen und wegzusehen, falls sie dennoch etwas Verbotenes bemerken sollten.
Allerdings waren nicht alle Staatsdiener so zurückhaltend. Drüben auf der Insel Wight zollten alle Bewohner zähneknirschend dem äußerst pflichtbewussten Inspektor William Arnold Respekt. Trotz geringer Unterstützung durch die Regierung hatte er mit eigenen Mitteln einen schnellen Kutter gekauft, um auf den Gewässern zu patrouillieren, und das mit großem Erfolg. Hätten auch die anderen Küstenstädte derartige Schiffe besessen, für die Schmuggler wären schwere Zeiten angebrochen.
Doch es gab auch andere Wege, der Übeltäter
Weitere Kostenlose Bücher