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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Gänsemarsch zur Kirche von Boldre. Wie der Vikar wusste, bedeutete die kostenlose Kleidung einen großen Anreiz. Er kannte seine Schäfchen. Immer wieder fehlte ein Kind einen Tag in der Schule, weil es seinen Eltern auf dem Feld helfen musste. Und wenn ein Vater oder eine Mutter Zweifel daran äußerten, ob so viel Bildung für ein Mädchen sinnvoll sei, versicherte ihnen der Reverend: »Da Schreiben und Rechnen für Mädchen weniger wichtig sind, legen wir großen Wert auf praktische Dinge wie Stricken, Spinnen und Sticken.«
    »Fällt es diesen Kindern denn schwer, Lesen und Schreiben zu lernen?«, fragte Fanny, als sie das Schultor erreicht hatten.
    Gilpin warf ihr einen Seitenblick zu. »Weil sie nur einfache Bauernkinder sind, Fanny?« Er schüttelte den Kopf. »Gott hat den Menschen nicht mit gesellschaftlichen Nachteilen erschaffen. Und ich kann Ihnen versichern, dass ein kleiner Pride genauso schnell lernt wie Sie oder ich. Seiner Lernfähigkeit sind erst dann Grenzen gesetzt, wenn er – und ich muss sagen, ganz zu Recht – erkennt, dass ihn dieses Wissen im Leben nicht weiterbringt. Hoppla, junger Mann!«, rief er plötzlich aus, als ein etwa zehnjähriger Junge mit schwarzem Lockenschopf aus dem Schulhaus stürmte und sich an ihnen vorbeidrängen wollte. »Was dieses Kind betrifft« – Gilpin hatte ihn geschickt eingefangen –, »könnte es bestimmt ein großartiger Altphilologe werden, Fanny, wenn es in andere Umstände hineingeboren worden wäre. Habe ich Recht, du Schlingel?«, fügte er liebevoll hinzu, während er den Jungen weiter fest hielt.
    Der kleine Nathaniel Furzey war eine Entdeckung von Gilpin. Er stammte nicht aus Boldre, sondern aus Minstead, war aber so klug, dass der Vikar ihm unbedingt den Schulbesuch ermöglichen wollte. Da er vermutete, dass die Furzeys in Oakley mit denen in Minstead verwandt waren, hatte er angefragt, ob sie den Jungen während des Schuljahrs bei sich aufnehmen würden. Doch sie hatten sich geweigert. Die Prides hingegen – sie sprachen kaum noch ein Wort mit ihren Nachbarn, den Furzeys, obwohl seit Alice Lisles tragischem Ende schon einige Generationen vergangen waren – hatten nichts dagegen, das Kind aus Minstead zu betreuen. Andrew, ihr eigener Sohn, ging auch zur Schule. Und so sah Gilpin jeden Morgen, wenn er aus dem Fenster blickte, zu seiner Freude, wie Andrew Pride und der lockige Nathaniel Furzey die Straße hinunter zur Schule stiefelten.
    »Aus deiner Flucht schließe ich, dass der Arzt bereits hier ist«, meinte der Vikar fröhlich zu seinem Gefangenen. Er wandte sich zu Fanny um. »Der Junge traut Ärzten nicht. Wie ich schon sagte, er ist nicht auf den Kopf gefallen.«
    Der Arzt, vor dem Nathaniel Furzey Reißaus genommen hatte, war kein Geringerer als Dr. Smithson, ein angesehener Mediziner aus Lymington, den der Vikar auf eigene Kosten hatte rufen lassen. Nun stand er im Klassenzimmer, während die Kinder sich gehorsam in einer Reihe vor ihm aufgebaut hatten. Heute sollte eine Impfung stattfinden.
    Erst vor acht Jahren war es zu einer kleinen, aber doch Besorgnis erregenden Pockenepidemie im New Forest gekommen. Seit kurzer Zeit impfte man erfolgreich mit kleinen Mengen des Pockenvirus. Und deshalb hatte Gilpin dafür gesorgt, dass seine Schüler eine Spritze bekamen.
    Doch trotz Gilpins Anwesenheit und obwohl die anderen Kinder die Prozedur klaglos über sich ergehen ließen, wehrte sich der kleine Nathaniel mit Händen und Füßen. Er stand neben dem Vikar, der seine Hand hielt, und schüttelte immer wieder entschlossen den Kopf. »Sicher wird er sich sträuben«, murmelte Gilpin. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    Fanny fiel eine Lösung ein. »Wenn ich mir eine Spritze geben lasse, Nathaniel«, sagte sie, »tust du es dann auch?« Nathaniel Furzey überlegte. Seine dunklen Augen blickten zwischen ihr und dem Arzt hin und her. »Ich zuerst«, bot sie ihm an. Er nickte langsam.
    Fanny nahm den Umhang ab und hielt dem Arzt den nackten Arm hin, während die Kinder aufmerksam zusahen. Dann unterwarf sich auch der kleine Nathaniel der Quälerei.
    »Sehr gut, Fanny«, meinte Gilpin leise. Und Fanny war unbeschreiblich stolz auf sich.
    Als der Arzt nach der Impfung Gilpin dankte und dieser dann verkündete, er werde Fanny bis nach Boldre Church begleiten, wurde ihr erst richtig klar, wie beliebt sie sich gemacht hatte.
    Von der Schule aus führten zwei Wege zur Kirche. Man konnte entweder zum Fluss hinuntergehen und dann wieder zur Kirche

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