Der Wald der Könige
hinaufsteigen. Oder man nahm den Pfad, der durch den Weiler Pilley, entlang der Talkante und rund um den kleinen Hügel verlief. Sie entschieden sich für letzteren, und da dieser etwa anderthalb Kilometer lang war, blieb ihnen genug Zeit, um ein wenig zu plaudern.
Die Kirche kam schon in Sicht, als der Vikar beiläufig sagte: »Heute bei der Impfung habe ich bemerkt, dass Sie eine Silberkette um den Hals tragen, Fanny. Das ist mir schon öfter aufgefallen. Doch der Anhänger bleibt stets unter Ihrem Kleid verborgen. Ich frage mich, was es wohl sein mag.«
An Stelle einer Antwort zog sie das Schmuckstück hervor. »Es ist nicht sonderlich ansehnlich«, meinte sie, »deshalb verstecke ich es. Aber ich trage es hin und wieder gern.«
Neugierig betrachtete Gilpin den Anhänger.
Es war ein seltsames, kleines Ding, ein hölzernes Kruzifix, vom Alter geschwärzt. Als er genau hinsah, konnte er eine Inschrift erkennen, doch es war ihm unmöglich, sie zu entziffern. Jedenfalls handelte es sich um ein Holzkreuz. »Heute haben Sie etwas sehr Christliches getan«, sagte er beglückt. »Und ich freue mich, dass Sie ein schlichtes Holzkreuz tragen. Denn meiner Ansicht nach ist es mehr wert als jedes Schmuckstück aus Silber oder Gold.«
Sie konnte nicht verhindern, dass dieses Lob sie erröten ließ. »Wollen Sie mir nicht erzählen, woher Sie es haben, Fanny?«
Obwohl sie erst sieben Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich noch gut daran. Ihre Mutter hatte sie danach zu einem Haus gebracht, das sich, soweit sie wusste, in Lymington befand. Offenbar war ihre Mutter wütend auf sie gewesen.
Drinnen saß eine Greisin am Feuer. Fanny erschien sie uralt, vermutlich über achtzig, und sie war dick in Decken eingewickelt. Doch sie wirkte sehr nett und freundlich und hatte leuchtend blaue Augen.
»Bring das Kind schon her, Mary«, sagte sie in leicht ungeduldigem Ton zu Fannys Mutter. »Weißt du, wer ich bin, mein Kind?«, fragte sie dann.
»Nein.« Fanny hatte keine Ahnung. Sie bemerkte, dass die alte Frau ihrer Mutter einen Blick zuwarf und den Kopf schüttelte.
»Ich bin deine Großmutter, mein Kind.«
»Meine Großmutter.« Aufregung ergriff sie. Bis jetzt war sie ganz ohne Großmutter aufgewachsen. Ihr Vater war bei seiner Hochzeit schon so alt gewesen, dass seine Mutter bei Fannys Geburt bereits nicht mehr lebte. Und bei ihrer Mutter hatte sie stets ähnliche Verhältnisse vermutet. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. »Du hast mir nie erzählt, dass ich eine Großmutter habe«, meinte sie vorwurfsvoll.
»Nun, aber du hast eine!«, rief die alte Dame aus.
Danach hatten sie nett miteinander geplaudert. Ihre Großmutter hatte von der Vergangenheit, von ihren Eltern und von anderen längst verstorbenen Verwandten gesprochen. Ihre Namen hatte Fanny noch nie gehört, doch eine vage Erinnerung an Meeresbrisen, Schiffe und Abenteuer war ihr für immer im Gedächtnis geblieben. Ihr war, als hätte sie durch ein bislang verborgenes Fenster plötzlich eine völlig neue Welt gesehen. Doch diese blieb ihr auch weiterhin verschlossen, denn der Besuch bei der alten Dame wurde nicht wiederholt. In den vielen Jahren, die Fanny in Haus Albion mitten im Wald verbrachte, war die Erinnerung an diese Begegnung verblasst wie ein Kindheitstag am Meer.
Nur ein greifbares Detail war ihr von diesem Tag geblieben. Kurz bevor sie gegangen waren, hatte sich die Großmutter das kleine Holzkreuz vom Hals genommen und es ihr hingehalten. »Das ist für dich, mein Kind«, sagte sie. »Damit du immer an deine Großmutter denkst. Meine Mutter hat es mir gegeben, und es war schon seit vielen Jahrhunderten im Besitz ihrer Familie. Es heißt, es stammt noch aus der Zeit vor der spanischen Armada.« Sie nahm Fannys Hand. »Versprichst du mir, es auch zu behalten?«
»Ja, Großmutter«, erwiderte Fanny, »ich verspreche es.«
»Gut, und nun gib deiner alten Großmutter, die du heute zum ersten Mal gesehen hast, einen Kuss.«
»Ich komme bestimmt wieder. Da ich dich jetzt kenne, musst du uns unbedingt besuchen«, erwiderte Fanny freudig.
»Pass gut auf das Kreuz auf«, antwortete die alte Dame.
Zu Fannys Überraschung war ihre Mutter sehr wütend, als sie wieder draußen auf der Straße standen. »Wie kann man einem Kind so ein schmutziges altes Ding schenken!«, schimpfte sie und betrachtete angewidert das Kreuz. »Zuhause werfen wir es gleich fort.«
»Nein!«, widersprach Fanny leidenschaftlich. »Es gehört mir. Meine Großmutter hat es
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