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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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habhaft zu werden. Und man musste Grockleton trotz seiner Fehler zugute halten, dass er ein fleißiger und mutiger Mann war. Wenn sein neuer Plan aufging, würde er bald der meistgehasste Mann der Grafschaft sein.
    Er schlenderte weiter die Straße entlang zum Kai. Inzwischen hatten sich die Leute wieder in Bewegung gesetzt, aber sie beobachteten ihn immer noch. Er spürte förmlich die Blicke in seinem Rücken. Unten an der Straße stand das Zollhaus, wo er seinen Arbeitsplatz hatte.
    Kurz bevor er es erreichte, bemerkte er den Franzosen. Wie die Leute zuvor verbeugte sich auch dieser und lächelte höflich. Allerdings aus einem anderen Grund. Er und seine Landsleute hielten sich als Gäste Seiner Majestät in Lymington auf, und aus diesem Grunde war es seine Pflicht, Zollbeamten mit Respekt zu begegnen.
    Der Graf – denn der Mann war nicht nur Regimentskommandeur, sondern auch Aristokrat – war ein äußerst angenehmer Zeitgenosse, der bei Mrs. Grockleton in höchstem Ansehen stand, weil er sie behandelte als wäre sie eine Herzogin. Da einige seiner Verwandten im Verlauf der Französischen Revolution auf der Guillotine den Tod gefunden hatten, strahlte er – zumindest in Mrs. Grockletons Augen – eine romantische Tragik aus. Der Graf brannte darauf, so rasch wie möglich gemeinsam mit anderen Adeligen, den in Lymington stationierten Truppen und weiteren französischen Emigranten gegen die neue Revolutionsregierung in Frankreich in den Kampf zu ziehen.
    »Bald, Monsieur le Comte«, pflegte Mrs. Grockleton dann zu seufzen. »Gewiss kommen wieder bessere Zeiten.« Dass England den Großteil des letzten Jahrhunderts mit dem royalistischen Frankreich Krieg geführt hatte, war ihr in Gegenwart des charmanten französischen Adeligen völlig entfallen.
    Also war es nicht überraschend, dass der Zollinspektor beim Anblick des Franzosen in die Tasche griff und einen Brief herausholte. Ein Passant hörte die Worte, mit denen er dem Grafen das Schreiben überreichte: »Ein Brief von meiner Frau, Graf.« Dann ging Grockleton weiter zum Zollhaus.
    Wenig später öffnete der Graf in der Abgeschiedenheit seines Zimmers den Brief und las ihn mit entsetzter Miene. »Mon Dieu!«, murmelte er. »Was soll ich jetzt tun?«
     
     
    Von Reverend Gilpins Haustür aus verlief eine gerade Straße zwischen Hecken und kleinen Feldern hindurch und kreuzte im rechten Winkel einen anderen Weg. Im warmen Sonnenlicht schlenderte Gilpin, einen großen Hut auf dem Kopf und einen Spazierstock in der Hand, dahin. Fanny trug ein langes Kleid und einen Umhang. Die beiden Freunde genossen ihren Spaziergang. Heute war das bescheidene Gebäude ihr Ziel, das links vor der kleinen Kreuzung stand.
    Gilpins Schule unterschied sich sehr von Mrs. Grockletons Akademie, war jedoch gewiss ebenso nützlich, zumal es vorher keine Schule in der Gemeinde von Boldre gegeben hatte. Und dieser bescheidene Hort der Gelehrsamkeit wirkte so idyllisch, dass man ihn beinahe pittoresk hätte nennen können.
    Das Gebäude war nur knapp fünfzehn Meter lang und hatte die Form eines T. Der Mittelteil bestand aus einem einzigen, achteinhalb Meter langen Raum. Der Seitenflügel verfügte über zwei niedrige Geschosse, wo die Wohnung des Schulmeisters und ein Klassenzimmer für die Mädchen untergebracht waren. Die Schmalseite des Mittelteils, die zur Straße zeigte, besaß eine Fassade im griechisch-römischen Stil mit dreieckigen Ziergiebeln. Das reizende Bauwerk stand auf einem winzigen Grundstück an der Straße, die zum Fluss und zur Brücke von Boldre führte. Wenn man nach Osten ging, erreichte man den mittelalterlichen Viehpferch, aus dem schon vor langer Zeit der Weiler Pilley entstanden war.
    »Wer hat Ihnen eigentlich das Land für die Schule verkauft?«, hatte Fanny den Reverend einmal gefragt. Sie kannte die Besitzer fast jedes Quadratmeters Boden in der Gegend, wusste aber nicht, wem dieses Grundstück gehörte.
    »Ich habe es gestohlen«, erwiderte der Vikar vergnügt. »Vom New Forest abgezwackt. Später musste ich dafür eine kleine Strafe bezahlen.«
    Dieser priesterliche Landraub verfolgte einen ganz einfachen Zweck, nämlich vierzig Jungen und Mädchen aus den Weilern, die zur Gemeinde Boldre gehörten, das Lesen, Schreiben und die Grundzüge des Rechnens beizubringen. Als Lesebuch diente die Bibel, deren Inhalt zweimal pro Woche abgefragt wurde. Jeden Sonntag zogen die Kinder ihre grünen Mäntel an, die die Schule ihnen zur Verfügung stellte, und gingen im

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