Der Wald der Könige
tiefe Gruben und knorrige Wurzeln. Auch Menschen, seltsame Geschöpfe, widerwärtige, affenähnliche Hutzelgestalten, die sie angafften oder auf sie zukamen, um sich ihrer zu bemächtigen. Nackte Angst ergriff sie, als hätte man sie in einer Höhle voller umherflatternder Fledermäuse eingesperrt. Sie, Fanny Albion, war eine Puckle? Keine Totton oder eine Seagull? In ihren Adern floss Köhlerblut? Es war zu schrecklich, um auch nur daran zu denken.
»Miss Albion.« Isaac Seagulls Stimme holte sie zurück in die Wirklichkeit. »Vielleicht irre ich mich ja. Ich habe es nur als Kind gehört.« Er war nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte. »Außerdem ändert es nichts«, versuchte er sie zu trösten. Aber sie senkte nur den Kopf, murmelte einen Dank und eilte davon.
Kurz darauf stand Isaac Seagull wieder an seinem Stammplatz und genoss den Sonnenschein. Fanny Albions Geheimnis war bei ihm sicher. Schließlich war er ein verschwiegener Mensch. Allerdings wunderte ihn das Ausmaß ihrer Bestürzung. Wahrscheinlich war das der Preis, den man als Angehöriger adeliger Kreise zahlen musste, wo eine lange Ahnenreihe und große Ländereien alles galten. Ihm wäre dieser Preis zu hoch gewesen. Und nicht zum ersten Mal schüttelte der kluge Freihändler über die Eitelkeit der Aristokratie den Kopf.
Ihm persönlich war es lieber, im Verborgenen zu wirken. Und um sein Glück zu machen, verließ er sich aufs wilde, offene Meer.
Als Fanny ein Stück die High Street hinuntergegangen war, begegnete sie Mrs. Grockleton, die sie ausgesprochen freundlich begrüßte. »Haben Sie schon von Ihrer klugen Cousine Louisa gehört?« Sie strahlte übers ganze Gesicht.
»Nein, Mrs. Grockleton. Ich rechne auch gar nicht damit. Warum bezeichnen Sie sie eigentlich als klug?«
»Aber, aber, meine Liebe.« Mrs. Grockleton drohte scherzhaft mit dem Finger. »Sie und Ihre Cousine müssen nicht glauben, dass Sie Ihre Geheimnisse vor uns alten Leuten hüten können.« Sie bedachte sie mit einem wissenden Blick. »Mir deucht, wir werden bald Nachricht von ihr erhalten.«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Mein liebes Kind, ich habe Louisa und Mr. Martell am Tag vor seiner Abreise zusammen gesehen. Aber verraten Sie es ihr bloß nicht. Ich habe schließlich Augen im Kopf. Und immerhin hat er sie mit ihrem Bruder nach Dorset eingeladen. Nur die beiden. Wenn er keine ernsten Absichten hätte, hätte er Sie doch gewiss ebenfalls aufgefordert zu kommen.«
»Ich sehe keinen Grund dafür.«
»Ach, Fanny, Sie sind so eine gute und treue Freundin. Ich werde Sie nicht mehr quälen. Aber wir wissen beide, mein liebes Kind, dass Louisa ihn heiraten will. Und meine Lebenserfahrung sagt mir, dass sie ihr Ziel auch erreichen wird.« Sie tätschelte Fanny die Wange. »Das wird sicher ein großes Fest.«
Ohne Fannys Antwort abzuwarten, rauschte sie wie eine Fregatte die Straße entlang.
Im September waren die Tage zwar noch warm, doch die ersten goldenen Blätter an den Eichen wiesen darauf hin, dass bald die aufregende Brunftzeit folgen würde. In Mr. Gilpins Schule in Boldre begann das neue Schuljahr, und jeden Sonntag sah man die Mädchen und Jungen in ihren grünen Mänteln zur Kirche auf dem Hügel hinaufmarschieren.
Nathaniel Furzey war auch dabei. Seine Lust auf freche Streiche hatte auch nach dem Sommer, den er bei seiner Familie in Minstead verbracht hatte, nicht nachgelassen. In der Schule jedoch war er zunächst durch seinen Wissensvorsprung aufgefallen. Mr. Gilpin hatte ihm ein Buch mit einfachen Algebra- und Geometrieaufgaben gegeben, da er das Addieren, das die anderen Kinder noch üben mussten, schon längst beherrschte. Trotz seiner Zweifel hatte der Vikar ihm auch gestattet, einmal wöchentlich in einem Geschichtsbuch zu lesen. Doch die übrige Zeit musste er sich auf die Bibel beschränken. »Da steht genug drin, junger Mann«, sagte Gilpin streng, »um dich für den Rest deines Lebens zu beschäftigen.«
Dennoch bedeutete Nathaniel für den Schulmeister eine Herausforderung. Er veranstaltete seltsame Zahlenspiele, statt wie die übrigen Kinder einfache Rechnungen zu lösen. Wenn er einen Text auswendig lernen sollte, stellte er die Wörter um, sodass sie alberne Reime ergaben. Immer wieder musste der Schulmeister ihn wegen seiner Streiche maßregeln – und dabei hatte das Schuljahr eben erst angefangen. Außerdem fragte der Junge ununterbrochen und wollte Begründungen hören, anstatt einfach zu tun, was ihm
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