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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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einen Boten schicken, dachte sie. Allerdings hat er dafür gar keinen Grund, schalt sie sich dann. Und sie wartete vergebens. Zehn Tage nach Louisas Besuch brachen die jungen Tottons auf nach Dorset. Fanny fühlte sich einsam.
    Drei Tage nach Louisas und Edwards Abreise saß sie draußen im Freien und blätterte geistesabwesend in einem Buch. Ohne es zu bemerken, betastete sie das kleine Holzkreuz an ihrem Hals, als ihr plötzlich etwas einfiel: Gewiss war die alte Frau, die es ihr geschenkt hatte, sehr allein gewesen. Hat meine Mutter sie je besucht? fragte sich Fanny. Vermutlich nicht. Ich bin sicher, dass ich sie nur einmal sehen durfte. Und warum? Ganz bestimmt, weil meine Mutter sich ihrer schämte. Sie wollte nicht einmal, dass ich das Holzkreuz, das einzige Geschenk einer alten Frau an ihre Enkelin, behielt. Und hier sitze ich, überlegte sie weiter, und bemitleide mich selbst, weil ich keine Einladung von einem Mann erhalten habe, den ich ohnehin kaum kenne und der mich wahrscheinlich längst vergessen hat. Wie viele Jahre musste meine Großmutter wohl allein in ihrem Haus in Lymington sitzen, während ihr die Liebe und Zuneigung ihrer Enkeltochter verweigert wurde, und zwar nur aus oberflächlicher Eitelkeit? Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Fanny klar, dass die Natur mit Liebe ebenso verschwenderisch umgeht wie mit den Eicheln, die sie auf den Waldboden fallen lässt.
    »Es ist mir gleichgültig, was sie denken«, murmelte sie. »Morgen fahre ich nach Lymington.«
     
     
    Isaac Seagull musterte Fanny neugierig. Er verstand genau, wie kühn ihre Frage gewesen war. In aller Seelenruhe hatte sie die gewaltige gesellschaftliche Kluft überschritten, die sie beide voneinander trennte, wie ein Entdecker, der eine schwankende Brücke betritt. Das Mädchen hat Mut, dachte der Meisterschmuggler. Dennoch fiel seine Antwort sehr vorsichtig aus. »Auf diese Idee wäre ich nie gekommen, Miss Albion«, sagte er. »Wenn es so wäre, dann nur sehr entfernt und vor langer Zeit.«
    »Kannten Sie meine Großmutter, die alte Mrs. Totton?«
    »Ja.« Er lächelte. »Eine sehr nette Dame.«
    »War sie denn keine geborene Miss Seagull?«
    »Ich glaube schon, Miss Albion. Genau genommen«, fuhr er fort, »war sie die Cousine meines Vaters. Sie hatte weder Brüder noch Schwestern. Also ist dieser Zweig der Familie ausgestorben.«
    »Bis auf mich.«
    »Wenn Sie das so sehen wollen.«
    »Soll ich es denn anders sehen?«
    Isaac Seagull ließ den Blick über den kleinen Garten schweifen. Sein seltsames, kinnloses Gesicht wirkte auf Fanny auf einmal überraschend ebenmäßig.
    »So weit ich weiß, Miss Albion, erinnert sich niemand in der Stadt daran, dass die alte Mrs. Totton eine Seagull war. Wahrscheinlich hat außer mir kein Mensch Kenntnis davon.« Er hielt inne und rechnete rasch nach. »Sie hatten sechzehn Ururgroßväter und Ururgroßmütter, und einer davon war mein Urgroßvater, allerdings nur mütterlicherseits. Nein.« Er schüttelte spöttisch den Kopf. »Sie sind Miss Albion aus Haus Albion, und zwar so sicher, wie ich Isaac Seagull, der Wirt des Angel Inn, bin. Wenn ich jetzt anfinge zu behaupten, mit Ihnen verwandt zu sein, Miss Albion, würden die Leute mich auslachen und sagen, ich hätte Flausen im Kopf.« Er lächelte sie freundlich an.
    »Wenn meine Großmutter die Tochter eines Mr. Seagull war«, beharrte Fanny, »wer war dann ihre Mutter?«
    »Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.«
    »Lügner.«
    Es geschah nicht oft, dass jemand es wagte, Isaac Seagull auf diese Weise anzureden. Er blickte in die strahlend blauen Augen des Mädchens. »Es ist besser, wenn Sie es nie erfahren.«
    »Überlassen Sie das ruhig mir.«
    »Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt«, meinte er zögernd, »könnte sie eine Miss Puckle gewesen sein.«
    »Puckle?« Fanny erbleichte wider Willen. Puckle, der gnomenhafte Mann mit dem wettergegerbten Gesicht, dem sie in Buckler’s Hard begegnet war? Puckle, die Familie der Waldbewohner und Köhler, die niedrigsten Bauern des New Forest, von denen einige sogar in Bretterhütten wohnten. »Eine der Puckles aus Burley?«
    »Er hatte sie sehr gern, Miss Albion. Außerdem war sie sehr klug und brachte sich selbst das Lesen und Schreiben bei, was – verzeihen Sie mir – vor ihr gewiss noch kein Puckle getan hat. Mein Vater sagte immer, sie sei eine sehr bemerkenswerte Frau gewesen.«
    »Ich verstehe.« Fanny saß da wie vom Donner gerührt. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Erdhöhlen,

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