Der Wald der Könige
ausgezeichnet, und Mr. West erwies sich als sehr unterhaltsam. Er erzählte amüsante Geschichten aus London und war freundlich genug, sich für Tante Adelaides und Fannys Haltung zu den wichtigsten Ereignissen der letzten Tage zu interessieren. Er ließ sich gern von der französischen Garnison in Lymington berichten und sich das Leben im New Forest ausführlich schildern.
Außerdem besaß er eine entwaffnende Offenheit. Denn als Fanny anmerkte, sie führten eigentlich ein sehr ruhiges Dasein, funkelten seine blauen Augen schelmenhaft, und er entgegnete: »Aber natürlich, Miss Albion. Doch ich muss Sie bitten, das Landleben deshalb nicht zu verurteilen. Schließlich kämpfen unsere Armeen, und unsere Schiffe patrouillieren die Küste, um genau dieses Ziel zu erreichen.«
Es stellte sich heraus, dass Mr. West Rennpferde liebte und gerne jagte und fischte.
Nach dem Dessert schlug er vor, dass sich die Männer nicht wie sonst üblich mit einem Glas Portwein zurückzögen, sondern alle gemeinsam in der Bibliothek Platz nähmen. Das wiederum gefiel Tante Adelaide sehr gut, doch sie sagte, sie hoffe, man werde ihr vergeben, wenn sie wegen ihres vorgerückten Alters nicht mehr lange bleibe.
»Aber ich würde gern das Haus besichtigen, Mr. West«, meinte sie, »denn da es meistens leer stand oder von kurzzeitigen Pächtern bewohnt wurde, habe ich es mir noch nie richtig ansehen können.«
»Natürlich, gerne«, erwiderte ihr Gastgeber und erhob sich, »wenn Sie mir verzeihen, dass ich noch nicht genug Zeit hatte, hier Ordnung zu schaffen, können wir es ja zusammen erkunden.« Er griff nach einem Kerzenleuchter, wies die Diener an, weitere zu bringen, und ging, seinen Gästen voran, in die Halle hinaus.
Im Erdgeschoss gab es neben der Bibliothek noch zwei kleinere Empfangszimmer, deren – ein wenig verblasste – Ausstattung der eines georgianischen Gutshauses entsprach. Die besseren Möbelstücke hatte Mr. West mitgebracht, doch einige Bilder und ein paar alte Wandbehänge gehörten zum Inventar und stammten offenbar aus dem letzten Jahrhundert. Die Atmosphäre erinnerte Fanny an die dunkle Geborgenheit von Haus Albion.
Sie hatte geglaubt, dass sie nach der Besichtigung dieser beiden Räume aufbrechen würden, doch ihre Tante war noch nicht fertig. »Wie sieht es denn oben aus?«, wollte sie wissen.
»Es gibt dort einen Treppenabsatz, eine kleine Empore und einen Salon«, entgegnete Mr. West. »Und natürlich die Schlafzimmer. Doch bis jetzt wurde dort kaum etwas getan, und ich fürchte, sie sind noch nicht vorzeigbar.«
»Dürfen wir sie uns nicht dennoch anschauen, Mr. West?«, erkundigte sich die alte Dame. »Da ich nun schon einmal hier bin, wäre ich, wie ich zugeben muss, schrecklich neugierig.«
»Wie Sie wünschen.« Er lächelte. »Wenn Ihnen die Treppe nicht…«
»Ich muss jeden Tag Treppen steigen«, antwortete sie. »Richtig, Fanny?« Also gingen sie langsam hinauf. Adelaide stützte sich auf Mr. Wests Arm. Zwei Diener trugen die Kerzenleuchter, und der Vikar folgte Adelaide in diskretem Abstand, um sie aufzufangen, falls sie stolpern sollte. Oben auf dem Treppenabsatz blieben sie kurz stehen. Dann schritt Mr. West voran und öffnete eine Tür, die leise in den Angeln quietschte.
Drinnen war es stockfinster, doch als der Diener die Kerzen hineinbrachte, waren die Umrisse eines hohen Himmelbetts mit schweren, alten, zerschlissenen Vorhängen zu sehen, ein Stuhl aus schimmernd polierter Eiche und das geisterhafte Flackern der Kerzenflamme in einem geschwärzten Spiegel.
»Ich glaube, an diesen Zimmern ist seit fast hundert Jahren nichts mehr getan worden«, verkündete Mr. West. Nachdem sie das Nebenzimmer besichtigt hatten, wo es genauso aussah, gab Tante Adelaide zu verstehen, dass sie nun gern wieder nach unten gehen würde.
Gerade hatten sie die Treppe erreicht, als die alte Dame am Ende des Ganges ein großes Porträt in einem schweren Goldrahmen erkannte. Es blickte ihnen entgegen, doch die Gesichtszüge lagen im Dunkeln. Mr. West, der ihr Interesse bemerkte, forderte den Diener auf, den Kerzenleuchter ein wenig näher heranzuhalten. Und da bot sich ihnen ein erstaunlicher Anblick.
Es handelte sich um das fast lebensgroße Porträt eines hoch gewachsenen, düster wirkenden, aber dennoch gut aussehenden Mannes. Seine Kleidung wies darauf hin, dass das Bild etwa hundert Jahre alt sein musste. Der Porträtierte trug keine Perücke, und das lange, dunkle Haar fiel ihm bis über die Schultern
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