Der Wald der Könige
auch wenn die gewöhnlichen Waldbewohner das nicht ahnten – nichts weiter als eine gewaltige Einöde. Im Osten lebten die Mills und die Drummonds, einige andere adlige Familien hatten sich an der Küste niedergelassen, in der Mitte wohnten die Morants und die Albions, und es gab noch einige Adelsgüter im nördlichen Teil des New Forest und im Avontal, wie zum Beispiel Bisterne an der östlichen Grenze. Doch für die adeligen Kreise dieser Gegend hätten die Dörfer und Weiler, ja selbst die geschäftige Stadt Lymington, genauso gut auf einem anderen Planeten liegen können. »Dort wohnt niemand«, pflegte man zu sagen, ohne sich dabei auch nur des geringsten Widerspruches bewusst zu sein. Und deshalb entsprang Mrs. Grockletons Wunsch, die Angehörigen dieser Schicht bei sich zu versammeln, viel mehr als bloßer Geltungssucht: Es handelte sich eher um das Grundbedürfnis, als menschliches Wesen wahrgenommen zu werden.
Ihre Hoffnung, die Burrards würden sich die Ehre geben, wurde enttäuscht. Als Mrs. Grockleton erfuhr, dass Mr. Martell beabsichtigte, Mr. Drummond in Cadland zu besuchen, hatte sie ihm durch Louisa eine dringende Nachricht zustellen lassen, in der sie ihn bat, den Gentleman und seine ganze Familie mitzubringen. Martell hatte sich jedoch entschlossen, nicht auf dieses Ansinnen einzugehen. Aber die Tottons würden kommen, und er hatte versprochen, sie zu begleiten. Und außerdem würde Fanny Albion da sein.
Warum hatte Wyndham Martell ihr bis jetzt noch nicht seine Aufwartung gemacht?
Auf den ersten Blick wirkten seine Ausflüchte recht einleuchtend. Schließlich war er hier, um Sir Harry Burrard besser kennen zu lernen, und er wollte seinem Gastgeber uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Und Sir Harry hatte ihn wirklich mit Beschlag belegt, viele Gespräche mit ihm geführt und Sitzungen mit örtlichen Honoratioren wie Mr. Drummond einberufen. Selbstverständlich hatten diese Dinge Vorrang, und es wäre falsch gewesen, Fanny Hoffnungen auf ein Treffen zu machen, das dann möglicherweise abgesagt werden musste. Außerdem gab es noch ein zweites Problem: Martell war nicht sicher, ob er in Haus Albion erwünscht sein würde, und er hatte nur wenig Lust, einen zweiten Hinauswurf zu riskieren. Deshalb war es gar nicht so leicht, Fanny wieder zu sehen.
Allerdings hätte er ihr in all diesen Tagen wenigstens eine Nachricht zukommen lassen können. Ja, gewiss, doch das hatte er nicht getan.
In Wahrheit – und er selbst war sich darüber im Klaren – hatte er sie absichtlich warten lassen.
Er mochte sie und musste sich eingestehen, dass er sie wirklich sehr gern hatte. Sie war klug und freundlich und hatte eine gute Erziehung genossen. Außerdem stammte sie aus einer alteingesessenen Familie und würde einmal ein bescheidenes Vermögen erben. Wahrscheinlich war es übertrieben, sie als gute Partie zu bezeichnen, aber wie er einen neidischen jungen Burschen vor einer Woche in London hatte sagen hören: »Als Besitzer zweier großer Güter kann dieser Martell jede x-Beliebige heiraten, ohne dass es ihm schaden würde.«
Wenn er einen der beiden Parlamentssitze für Lymington errang und die Erbin des Gutes Albion heiratete, würden sein Vater und dessen Freunde das gewiss als Erfolg betrachten. Und Martell konnte nicht leugnen, dass ihm derartige Dinge wichtig waren. Auch wenn er sich insgeheim nach mehr sehnte als nach diesen konventionellen Freuden, nahm er an, dass ihm eine politische Karriere weitere Möglichkeiten eröffnen würde.
Außerdem gefiel ihm noch etwas an Fanny: Sie war bescheiden und hatte nicht versucht, sich ihm an den Hals zu werfen. Das taten viele Frauen in London, was ihm anfangs geschmeichelt hatte, bald aber zur Last geworden war. Es störte ihn nicht, wenn ein keckes Mädchen wie Louisa Totton ihre Netze nach ihm auswarf, denn trotz ihrer Fehler hielt er sie nicht für klug genug, ihn zu täuschen. Außerdem amüsierte sie ihn. Mit Fanny jedoch war es eine völlig andere Sache. Fanny hatte ein schlichtes, reines Wesen und war darüber hinaus intelligenter.
Und sie wartete auf ihn. Wenn er sich dafür entschied – und da war er noch nicht sicher –, würde sie ihm gehören. Vor Nebenbuhlern hatte er keine Angst. Aber er wollte eine Frau, deren Herz uneingeschränkt ihm und nur ihm allein gehörte.
Deshalb hielt er in Herzensangelegenheiten nicht viel von Spielchen – außer natürlich, wenn sie von ihm ausgingen. Jeder Mann wusste, dass es nicht schaden konnte, die
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