Der Wald der Könige
gemacht? Sie glaubte nicht. War sie erleichtert? Sie vermutete es wenigstens. Weshalb also war die Kraft, die sie noch vor ein paar Minuten verspürt hatte, plötzlich verflogen, als sie um die nächste Ecke bog. Ihre Füße waren auf einmal bleischwer, und sie bemerkte nicht, dass sie Kopf und Schultern hängen ließ. Der Himmel über dem steilen Felsenberg wurde düster und grau.
Zu Hause angekommen, setzte sie sich mit einem Buch ans Fenster im Salon. Als Mrs. Grockleton eine Ausfahrt vorschlug, schützte sie Kopfschmerzen vor. So saß sie stundenlang da, ohne etwas zu tun oder zu denken. In jener Nacht schlief sie schlecht.
Fannys Neugier, was Mr. Martells Aufenthaltsort betraf, wurde am Anfang der folgenden Woche durch einen Brief von Louisa befriedigt.
Louisa schrieb, Mr. Martell werde in ein paar Tagen bei den Burrards erwartet. Außerdem müssten Edward und sie den Besuch in Bath absagen.
Sicher freut es dich zu hören, Fanny, dass Mr. Martell anschließend nach London Weiterreisen will und Edward und mich gebeten hat, ihn zu begleiten. Auch wenn es in Bath gewiss sehr amüsant ist, kann es mit London bestimmt nicht mithalten. Deshalb muss unser Besuch bei dir und Mrs. Grockleton leider ausfallen.
Mit diesen Worten endete das Schreiben. Louisa hatte vergessen, sich nach ihrer Gesundheit zu erkundigen, und schien es nicht einmal zu bedauern, dass das Treffen nicht stattfinden würde. Zunächst wusste Fanny nicht, wie sie es deuten sollte, doch als sie länger darüber nachdachte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Schadenfreude: Ihre Cousine teilte ihr unmissverständlich mit, dass sie sie übertrumpft hatte. Und Kälte: Die kurze, beiläufige Entschuldigung für den abgesagten Besuch sollte eigentlich heißen, dass Louisa Wichtigeres zu tun hatte und dass Fanny das auch ruhig erfahren konnte.
Meine Cousine und Freundin liebt mich nicht mehr, dachte Fanny bedrückt. Wer liebt mich überhaupt, außer meinem Vater und Tante Adelaide? Mr. Gilpin vielleicht, aber das ist seine Pflicht. Vielleicht habe ich ja zu wenig Liebenswertes an mir. Wieder fühlte sie sich wertlos und sah keinen Sinn mehr im Leben. Alles erschien ihr wie eine große, graue Welle, die sich im Winter an einem kahlen Strand brach.
Der Zwischenfall, der sich Ende Februar in dem modischen Badeort Bath ereignete, war eigentlich nicht der Rede wert. Allerdings sah man das in jener Zeit anders. Schon nach wenigen Tagen gab es keinen Menschen in der ganzen Stadt, der nicht für eine der beiden Seiten Partei ergriffen hätte, obwohl fast niemand die bedauernswerte junge Dame kannte, um die es ging. Die Angelegenheit erregte deshalb so großes Aufsehen, weil man sie sich kaum erklären konnte. Es wurde wild gemutmaßt. Ob all das Gerede, das der Unglücklichen nicht einmal zu Ohren kam, schädlich oder von Nutzen war, war schwer zu sagen. Nur der verarmte Major, der in den Gemeinderäumen mit ihr getanzt und geplaudert hatte, zog seine Vorteile daraus. Denn da er der Betreffenden persönlich begegnet war, lud man ihn plötzlich ein, in Häusern zu speisen, in die er bislang nie einen Fuß gesetzt hatte, wodurch sich seine Chancen, eine reiche Witwe zu angeln, beträchtlich erhöhten.
Fanny Albion saß im Gefängnis.
»Mrs. Pride muss mich begleiten.« Tante Adelaide duldete keinen Widerspruch, und unter diesen Umständen war sogar der alte Francis gezwungen, klein beizugeben. Allerdings erkundigte er sich in nörgelndem Ton, wer sich jetzt um ihn kümmern würde. »Du bleibst bei den Gilpins«, teilte seine Schwester ihm mit.
Eigentlich hatte Mr. Gilpin selbst zu Fanny fahren wollen, doch Adelaide hatte ihn davon überzeugen können, dass er ihr eine größere Hilfe war, wenn er ihren Bruder versorgte. »Ich hätte keine Ruhe, wenn ich ihn ohne Mrs. Pride zurückließe«, sagte sie. Und so wurde der alte Mann ins Pfarrhaus gebracht, wo er sich gemütlich einrichtete. Inzwischen schrieb Mr. Gilpin einen Brief:
Mein liebes Kind,
ich kann mir nicht vorstellen, wie es zu dieser seltsamen Verkettung von Umständen kommen konnte. Darüber hinaus erscheint es mir unmöglich, dass Sie in der Lage sind, etwas Böses zu tun. Ich bete für Sie und bitte Sie, nicht zu verzweifeln und stets daran zu glauben, dass wir alle in Gottes Hand sind. Vertrauen Sie auf ihn und denken Sie daran, dass die Wahrheit uns frei macht.
Zu Tante Adelaide meinte er nur: »Besorgen Sie sich einen guten Anwalt.«
Also machten sich die
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