Der Wald der Könige
er leise. Während der restlichen Mahlzeit wurde dieses traurige Thema nicht mehr erwähnt.
Als sich die Damen zurückgezogen hatten und die Herren beim Portwein saßen, besprach Martell die Angelegenheit mit Burrard und Totton.
»Eine seltsame Sache«, sagte Burrard. »Gilpin und ich haben versucht, uns kundig zu machen, natürlich ohne uns einzumischen. Der fragliche Laden, der die Vorwürfe erhebt, verweigert eine gütliche Einigung. Der Magistrat besteht darauf, Miss Albion in Haft zu behalten. Am schlimmsten jedoch ist der Zustand von Fanny selbst.« Rasch erklärte er, dass Gilpin die Grockletons überredet hatte, mit Fanny nach Bath zu fahren. »Im Winter ist sie sehr melancholisch geworden. Leider hat die Reise nach Bath offenbar keine Besserung bewirkt. Sie ist völlig teilnahmslos und trägt nichts zur Aufklärung des Falls bei. Und selbst bei Leuten unseres Standes, Martell, ist Diebstahl eben Diebstahl. Ich möchte Ihnen nicht verheimlichen, dass ich mir Sorgen um sie mache. Es ist eine schwerwiegende Anschuldigung.«
Diebstahl wurde im England des achtzehnten Jahrhunderts streng bestraft, und zwar häufig mit dem Tode oder Abschiebung in die Kolonien. Dabei hing das Strafmaß nur selten vom Wert der gestohlenen Ware ab. Viel wichtiger waren der Charakter des Übeltäters und der Umstand, dass er sich an fremdem Eigentum vergriffen hatte. Deshalb galt Fannys Verbrechen als schwerer Gesetzesverstoß, der auch für Adelige empfindliche Folgen haben konnte. Denn es ging darum, ein Exempel zu statuieren und zu beweisen, dass für niemanden Ausnahmen gemacht wurden.
»Weiß man, welchen Grund ihre Niedergeschlagenheit hat?«, fragte Martell.
»Nein«, erwiderte Edward Totton. »Ich glaube, es begann nach Mrs. Grockletons Ball. Vielleicht war es ihr peinlich, wie ihr Vater sich in der Öffentlichkeit aufgeführt hat, obwohl sie dazu überhaupt keinen Anlass hat. Außerdem denke ich, dass Louisa und ich einen Teil der Schuld tragen. Wir haben sie sträflich vernachlässigt, und ich schäme mich sehr dafür.«
Kurz nach dem Ball also. Womöglich hat ihre Melancholie eine andere Ursache, dachte Martell. Dennoch beschäftigte ihn, als sie sich zu den Damen gesellten, immer noch die Frage, wie um alles in der Welt er ihr nur helfen könnte. Gewiss hatte die Familie ihr bereits einen guten Anwalt besorgt. Und vielleicht würde seine Einmischung nicht willkommen sein.
Ein Satz des Gespräches wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf: »Sie ist völlig teilnahmslos und trägt nichts zur Aufklärung des Falls bei.« Darum musste man sie dazu bringen. Die Sache war viel zu ernst, um sie dem Zufall zu überlassen. Es war unabdingbar, dass Fanny selbst etwas unternahm, um sich aus dieser misslichen Lage zu retten.
An zwei Tischen wurde Karten gespielt, doch Martell war nicht in der richtigen Stimmung dafür. Da es Louisa offenbar ebenso erging, setzten sie sich auf ein Sofa, um zu plaudern.
Martell hielt Louisa zweifellos für eine sehr hübsche und amüsante junge Frau. Er mochte sie und genoss ihre Gesellschaft. Hin und wieder dachte er sogar daran, ihr den Hof zu machen. Die Tottons gehörten zwar nicht ganz zu seinen Kreisen, doch er war in der Wahl seiner Ehefrau mehr oder weniger frei. Die Nachricht von Fannys schwieriger Lage hatte ihn angerührt, und nun sah er Louisa voller Zuneigung an. »Ich muss gestehen«, sagte er, »dass ich mir große Sorgen um Miss Albion mache.«
»Das tun wir alle«, erwiderte sie leise.
»Außerdem frage ich mich, ob ich nicht etwas für sie tun sollte. Vielleicht«, überlegte er laut weiter, »könnte Edward sie besuchen. Ich würde ihn dann begleiten.«
Louisas Miene verdüsterte sich ein wenig. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so für Fanny interessieren«, meinte sie sanft.
»Und außerdem könnte es sein, dass sie Edwards Anwesenheit zurzeit nicht wünscht.«
»Möglich. Dennoch« – er schüttelte den Kopf – »vermute ich, dass sie im Augenblick Gesellschaft und wirkliche Freundschaft nötig hätte.«
»Ich verstehe.« Man brauchte nur wenig weibliches Einfühlungsvermögen – und mit diesem war Louisa reichlich ausgestattet –, um zu sehen, in welche Richtung Martells Gefühle offenbar neigten. »Niemand weiß«, fuhr Louisa zögernd fort, »wie die Dinge wirklich liegen. Deshalb ist Vorsicht angebracht.«
»Was soll das heißen? Verdächtigen Sie Miss Albion etwa dieses Verbrechens?«
»Nein, Mr. Martell.« Louisa hielt inne. »Aber da wir nicht vor Ort
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