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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ins Zeug legen müssen, um nicht von ihm abgehängt zu werden. Die alten Eichen mit ihren efeubewachsenen Stämmen waren seine besten Freunde.
    Seit seinem Verschwinden aus der Abtei hatte sich sein Äußeres sehr verändert. Er trug einen Jägerrock, ein Wams, wollene Beinlinge und einen dicken Ledergürtel. Sein Haar und sein Bart waren lang und struppig. Und da es im New Forest viele Männer gab, die aussahen wie er, hätte niemand, dem er unterwegs begegnete, ihn auch nur eines Blickes gewürdigt.
    Doch er war auf der Flucht und würde bald für vogelfrei erklärt werden. Welche Folgen würde das für ihn haben? Theoretisch betrachtet, dass jeder Mensch sein Feind war. Und praktisch? Das hing davon ab, ob man Freunde hatte und ob die Obrigkeit einen wirklich aufspüren wollte.
    Wenn er nun einem Förster in die Arme gelaufen wäre und dieser ihn erkannt hätte, wäre er sicher festgenommen worden. Daran bestand kein Zweifel. Doch wäre zum Beispiel der junge Alban, falls er in der Ferne eine langbärtige Gestalt erblickte, die möglicherweise Luke war, wirklich hingeritten, um sich zu vergewissern? Vielleicht. Wahrscheinlicher aber war, dass er einfach sein Pferd gewendet und einen anderen Weg genommen hätte.
    Was sollte Luke jetzt tun? Schließlich konnte er nicht bis in alle Ewigkeit weiter durch den Wald streifen. Das Gericht in Lyndhurst hatte ein unmissverständliches Urteil gesprochen. Es wäre besser gewesen, wenn er sich gestellt und auf Gnade gehofft hätte.
    Die Schwierigkeit war nur, dass Luke – möglicherweise lag es ihm ja im Blut – der Obrigkeit von Grund auf misstraute.
    Diese Einstellung mochte bei einem Menschen, der sich entschieden hatte, in Beaulieu ein geregeltes Klosterleben zu führen, abwegig anmuten. Doch in Wirklichkeit war es gar nicht so seltsam. Denn für Luke war die Abtei ein Zufluchtsort, ein riesiges Landgut, wo er gerne arbeitete und von wo er nach Herzenslust im New Forest umherstreifen konnte. Er hatte Freude an den Gottesdiensten in der Abteikirche und lauschte gebannt den heiligen Gesängen. Und da er von Natur aus wissbegierig war, hatte er viele der lateinischen Psalmen und ihre Übersetzung auswendig gelernt, obwohl er nicht lesen konnte. Allerdings hätte er keine Lust gehabt, so viel Zeit in der Kirche zu verbringen wie die Mönche. Er fühlte sich draußen auf den Feldern wohler und half gern den Schäfern, wenn sie ihre Herden von Gut zu Gut trieben. Die Abtei kleidete ihn, gab ihm etwas zu essen und ermöglichte ihm ein geborgenes, sorgenfreies Leben. Was konnte ein Mensch mehr verlangen?
    Die Abtei war seiner Ansicht nach deshalb so erfolgreich, weil sie sich an die natürliche Ordnung hielt. Denn die Natur war etwas, das Luke verstand. Die Bäume, die Pflanzen, die Tiere des Waldes, sie alle folgten einer inneren Uhr. Die Gründe brauchte man nicht zu kennen; es war wie ein gut geöltes Räderwerk. Und die Abtei konnte nur deshalb überleben, weil sie sich an diesen natürlichen Ablauf angepasst hatte.
    Wenn Außenseiter, Männer wie Grockleton oder die Reiserichter des Königs, die den New Forest nicht richtig kannten, hierher kamen, eine Menge alberner Regeln aufstellten und sich als große Herren aufspielten, war es das Beste, einen großen Bogen um sie zu machen. Denn Luke erkannte tief in seinem Herzen nur ein Gesetz an: das der Natur.
    »Der Rest gibt eigentlich nicht viel her«, pflegte er zu sagen. Und der Obrigkeit, die so viel Wert auf die Einhaltung dieser Gesetze legte, konnte man auf keinen Fall über den Weg trauen.
    »Heute tun sie einem schön, und morgen kriegen sie dich dran. Denen geht es sowieso nur um ihre Macht.«
    So sah ein einfacher Bauer die Herrschenden, und er hatte damit gar nicht so Unrecht.
    Deshalb beabsichtigte Luke nicht, sich an den Richter und das Gericht zu wenden, vor allem nicht, solange Grockleton die Finger mit im Spiel hatte. Er hielt es für besser, sich zu verstecken und abzuwarten, bis sich etwas ergab. Man wusste nie, was noch geschehen würde.
    Luke hatte Freunde, und bis zum nächsten Winter würde er sich schon durchschlagen können. In der Zwischenzeit gab es genügend Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Alle paar Tage beobachtete er aus einiger Entfernung seine Schwester Mary, die jedoch nichts davon ahnte. Es machte ihm Spaß zuzusehen, wie sie ihrer Hausarbeit nachging oder draußen mit den Kindern spielte, auch wenn er nie ein Wort mit ihr wechselte. Er fühlte sich wie ihr Schutzengel, der heimlich über

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