Der Wald der Könige
Amsel mit einem gebrochenen Flügel. Mary hatte ihn mit einem winzigen Holzstück geschient, und nun hatte der Vogel in der Scheune Unterschlupf gefunden, bis seine Verletzung geheilt war. »Hier erwischt ihn die Katze nicht«, erklärte sie.
Er kniete sich neben sie, und als sie den Vogel zärtlich streichelte, tat er es ihr nach, sodass sich ihre Hände streiften. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete sie, wie sie sich weiter über den Vogel auf seinem Bett aus Stroh beugte.
Obwohl sie den Mönch nicht ansah, spürte sie seine Gegenwart.
Es war seltsam. Bis jetzt war er ein Fremder für sie gewesen, unerreichbar, von höherem Stand, unantastbar, geschützt von seinem Gelübde und für Frauen tabu. Und dennoch wusste sie, dass auch er letztlich nur ein Mann war.
Und sie würde ihn bekommen. Ganz sicher, das sagte ihr eine innere Stimme. Mochte ihr Gatte sie demütigen, so viel er wollte, es lag in ihrer Macht, diesen Mann hier zu verführen, obwohl er Tom Furzey haushoch überlegen war.
Plötzlich wurde sie von Begierde ergriffen. Sie, die sittsame Mary, konnte diesen unschuldigen Menschen hier und jetzt zum Mann machen. Es war ein berauschendes, Schwindel erregendes Gefühl.
»Seht Ihr?« Sie hob den Flügel des Vogels an, damit er ihn untersuchen konnte. Als er es tat, drehte sie sich fast unmerklich, sodass ihre Brüste sein Gewand streiften. Dann stand sie langsam auf, ihr Bein berührte seinen Arm. Sie ging zur Tür, die einen Spalt weit offen stand, und spähte ins helle Sonnenlicht hinaus. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse.
Kurz dachte sie an ihren Mann, aber wirklich nur für einen Augenblick. Tom Furzey wusste sie nicht zu schätzen. Sie schuldete ihm nichts mehr. Mary beschloss, keine Rücksicht mehr auf ihn zu nehmen.
Sie spürte, wie die Sonnenstrahlen ihre Brüste liebkosten. Ein zittriges Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Sie schloss die Tür und drehte sich um. »Ich möchte nicht, dass die Katze hereinkommt.« Sie lächelte.
Langsam schritt sie auf ihn zu. Es war dunkel in der Scheune. Nur hie und da drangen leuchtende Sonnenstrahlen durch die Ritzen im Holz. Als sie sich näherte, erhob er sich zögernd, sodass sie einander gegenüberstanden, so dicht, dass sie sich fast berührten.
Und Bruder Adam, der es liebte, nachts unter dem gewaltigen Sternenhimmel der Stimme Gottes zu lauschen, wusste nur, dass ein viel wärmeres, helleres Licht in seine Welt eingedrungen war und die Sterne verblassen ließ.
Sie hob die Arme und schlang sie ihm um den Hals.
Die Morgenandacht. Immer derselbe Ablauf. Die ewigen Worte.
Laudate Dominum…Et in terra pax.
Das Gebet: Pater Noster, qui es in coelis…
Sechzig Mönche, dreißig auf jeder Seite des Ganges, jeder an seinem Platz, der sich nur durch den Tod eines Mitbruders veränderte. Weiße Kutten, geschorene Schädel, Stimmen, im Chor vereint, die die immer gleichen Psalmen sangen. Die Zisterzienser pflegten eine schlichte, knappe Form der Gregorianik, die Bruder Adam seit jeher besonders gefiel. Laudate Dominum.
Alle waren sie da: Der Messner, der in der Kirche nach dem Rechten sah, der hoch gewachsene Kantor, der das Gebet leitete, der Kellermeister, der die Brauerei versorgte, und sein Gehilfe, der die Fischteiche versorgte. Der gute Bruder Matthew, inzwischen Novizenmeister, und Bruder James, der Almosenpfleger. Grockleton, die Klaue um die Kante seiner Sitzbank gelegt. Die etwa sechzig Mönche der Abtei Beaulieu – grauhaarig, blond, klein, groß, dick oder mager, in ihren Gesang vertieft und doch aufmerksam – hielten gemeinsam mit den Laienbrüdern, die im Kirchenschiff saßen, die Morgenandacht ab. Auch Bruder Adam befand sich an seinem angestammten Platz.
An diesem Sommermorgen brannten keine Kerzen im Chorgestühl. Der Messner hielt das für überflüssig, denn die Sonnenstrahlen fielen bereits gedämpft durch die Fenster hinein, spiegelten sich im Chorgestühl aus Eichenholz und malten Lichtpunkte auf den Mosaikboden.
Bruder Adam sah sich um. Was sang er da eigentlich? Er hatte es vergessen und versuchte, sich zu sammeln.
Ein fürchterlicher Gedanke kam ihm in den Sinn, und er wurde von Angst ergriffen. Was war, wenn er ohne nachzudenken zu reden begann oder sogar Marys Namen aussprach? Oder wenn er sonst wie verriet, was er getan hatte? Hatte er nicht eben an ihren Körper gedacht? An jede einzelne Hautfalte, ihren Geruch, ihren Geschmack, ihre Liebkosungen? Mein Gott, hatte er es etwa laut herausgerufen,
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