Der Wald des Vergessens
die Karten blicken zu lassen. Aber Wield hatte seine Homosexualität zu lange versteckt, um bloßer Geheimnistuerei groß Bedeutung beizumessen. Er wußte besser als die meisten Menschen, daß man die Angewohnheit, diskret zu sein, schwerer ablegte, als die Gründe dafür. Wie die alte Redensart sagt, einmal eine Nonne, immer eine Nonne.
Annabel Jacklin war so wenig Nonne, wie man nur sein kann, ohne in
The Sound of Music
aufzutreten. Sie war die dralle Blondine, die Jacksie gerufen wurde und deren Sturz in den Trichter der Auftakt zur Entdeckung der Knochen gewesen war. Bisher hatte Wield sie nur klatschnaß, schlammverschmiert und im tiefen Schock erlebt. Nachdem sie sich von ihrem Erlebnis erholt hatte, machte sie nun das Beste aus einer recht beträchtlichen Ähnlichkeit mit der Monroe auf ihrem Höhepunkt in
Manche mögen’s heiß.
Wield hatte einmal einen Lebensabschnittsgefährten gehabt, der darauf bestand, daß er sich den Film gleich dreimal hintereinander mit ihm ansah. Dergleichen würde sich in der Gesellschaft von Edwin Digweed nicht wiederholen, der inbrünstig glaubte, daß die einzig guten Filme, die jemals gedreht wurden, viereckig, von körniger Bildqualität und gewöhnlich lautlos waren. Wield blieb nichts anderes übrig, als mit einem Schulterzucken zu sagen: »Niemand ist vollkommen.«
Kaum hatte Jacksie vernommen, welchen Grund der Fremde auf ihrer Schwelle für seinen Besuch hatte, als sie selbst die geringste Andeutung unterdrückte, ihre Reize vor ihm spielen zu lassen.
»Ich bin fast in Ohnmacht gefallen, als ich gesehen hab, wer da auf der Intensivstation lag«, sagte sie. »Es ist das erste Mal für mich, ich meine, daß es jemand ist, den ich persönlich kenne, und es ist echt ein Schock, müssen Sie wissen. Auf der Arbeit ist man in einer ganz bestimmten Gemütsverfassung, sozusagen distanziert. In meinem Beruf muß man das einfach sein. Und wenn man dann jemanden sieht, den man kennt, dann rüttelt einen das sozusagen auf, und man wird zu dem Menschen, der man gewöhnlich ist, verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja«, sagte Wield. »In meinem Beruf ist es dasselbe.«
»Kann ich mir vorstellen. Wie geht es ihr? Wissen Sie das? Ich hab heut meinen freien Tag, aber ich wollte noch anrufen, um zu erfahren, wie es ihr geht.«
»Noch immer bewußtlos, glaube ich. Aber alle bemühen sich nach Kräften. Entschuldigung. Daß ich das ausgerechnet zu Ihnen sage. Ich brauche ein paar Hintergrundinformationen, Miss Jacklin. Kennen Sie Miss Walker schon lange? Waren Sie eng befreundet?«
»Ja. Das heißt, ich glaube. Ich weiß nicht. Ich meine, ich kenne sie … kenne sie … wir waren befreundet, aber nicht so sehr lange …«
»Sie wollen sagen, daß Sie sich gut verstanden, aber daß Sie sie nicht wirklich lange genug gekannt haben, um viel über sie zu wissen?« sagte Wield.
»Das stimmt. He, warum beantworten Sie nicht gleich alle Fragen selbst, die Sie mir stellen?« sagte sie und funkelte ihn wieder an wie am Anfang.
»Heißt das, daß Sie sich auch außerhalb der Gruppe getroffen haben?«
»Ein paarmal, ja. Eigentlich bin ich ihretwegen in der Gruppe geblieben. Als sie eintrat, hatte ich gerade die Nase gestrichen voll. Nicht davon, Tieren zu helfen und so, das hab ich schon immer getan, schon als ich noch ein Kind war, wissen Sie, Tierschutzverein, Zufluchtsorte für Esel, Tierheime. Ich habe mich auch bei Unterschriftenaktionen engagiert, Märsche organisiert und Protestaktionen …«
»Und dann sind Sie ANIMA beigetreten«, ließ Wield einfließen.
»Ja, richtig. Eine Frau, die dort gearbeitet hat, wo ich arbeite, und die ich manchmal auf Demos gesehen habe, hat mich mitgenommen. Solange sie da war, ging auch alles gut, aber dann ist sie weg. Ihr Mann hatte eine Stelle in Südengland gefunden. Danach war es nicht mehr so gut.«
»Inwiefern?«
»Tja. Die anderen, ich weiß nicht so recht, man hat mich behandelt, als wäre ich noch ein Kind. Die bilden sich alle ein, daß aus Caps Hintern die Sonne scheint …«
»Und Sie nicht?«
»Cap ist durchaus in Ordnung. An ihr lag es nicht. Ich meine, in gewisser Weise doch, denn sie ist so zielstrebig, und ich habe gemerkt, daß ich sie ein paarmal auf die Palme gebracht habe, wenn ich mich ungeschickt anstellte. Ich mache das nicht extra, aber die machen mich alle etwas nervös. Also Cap hat mir nichts ausgemacht, sie hat die Führung, aber ich hab nicht eingesehen, wieso das den anderen das Recht geben sollte, mich von oben
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