Der Wald des Vergessens
geboren.
Mittlerweile war ich nicht mehr in der Fabrik, sondern im Kontor. Als richtiger Kontorist mit guten Aussichten und genug Einnahmen, um Frau und Familie ordentlich zu versorgen. Ich habe sogar ein Klavier gekauft, weil Alice hoffte, daß Ada sich als musikalisch herausstellt. Zu meiner Überraschung habe ich festgestellt, daß ich selbst in dieser Richtung begabt war. Ich hatte vorher nie die Gelegenheit gehabt, das herauszufinden. Im Nu konnte ich die ganzen Ragtime-Melodien spielen, die in Mode waren.
Mr. Grindals Vertrauen zu mir wuchs täglich. Und als er den Beschluß faßte, daß sein Sohn Bertie die Sommerferien damit verbringen sollte, seinen Kopf von den ganzen vornehmen Vorstellungen zu leeren, die seine Mutter und seine teure Schule hineingepackt hatten, vertraute er ihn meiner Obhut an.
Bertie sah gut aus, ein bißchen wie ein Mädchen mit seinem weichen hellbraunen Haar, das er mit einem Seidentuch zurückband, als man ihn darauf hinwies, daß es sich in den Maschinen verfangen konnte. Fortan nannten ihn alle Gertie. Allerdings nie, wenn Mr. Grindal in Hörweite war.
Er sagte, er würde sich an mich erinnern, als er noch klein war, und er sprach sehr liebevoll von meiner Mutter, die ich seit über einem Jahr nicht gesehen hatte. Sie war krank geworden, während die Familie in Cromer war. Als die Familie nach London zurückkehrte, war sie dort geblieben. Sie war nicht in der Verfassung, zu reisen und ihre Enkelin zu sehen. Man hatte mir versichert, es sei eine Kleinigkeit, die vorübergehen würde. Doch wegen einiger Bemerkungen, die der junge Gertie unbedacht fallenließ, begann ich mir Sorgen zu machen, es könnte etwas viel Schlimmeres sein. Doch zu meiner Schande unternahm ich nichts. Davon abgesehen hatte ich wenig Sorgen. Als Mr. Grindal mir riet, zum Institut zu gehen, um Kurse in Buchhaltung zu nehmen und mich auch sonst fortzubilden, zeigte mir mein Blick in die Zukunft, daß ich für die beste Firma im besten Land arbeitete. Ich sah nur Frieden und Wohlstand am Horizont.
Mr. Cartwright hat mich gestern abend gefragt, wie es mit dem Fortschritt meiner Autobiographie aussieht. Ich habe geantwortet, nicht übel, obwohl ich sie in Wahrheit seit vielen Monaten vernachlässigt habe. Er hat gefragt, ob er sie sehen darf, wenn ich das Gefühl habe, daß sie fertig ist. Ich habe gesagt: Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Was ich gemeint habe, war, daß weder er noch sonst jemand sie sehen darf, außer Alice und eines Tages unsere kleine Ada.
Mr. Cartwright sagte, daß der Parlamentarier Mr. Philip Snowden morgen ins Institut kommen würde und daß das, was er zu sagen hat, mich vielleicht interessiert. Ich habe in der Zeitung von ihm gelesen. Ich habe auch Mr. Grindal über ihn reden hören. Er hält ihn für eine Schande für Yorkshire und England und meint, daß man ihn hängen sollte! Deshalb gehe ich vielleicht hin, aber gut vermummt, damit mich niemand erkennt.
Viele Wochen sind vergangen, seit ich das oben geschrieben habe. Viel ist passiert. Meine Mutter ist tot. Das ist das Schlimmste und Traurigste. Und es heißt, daß es zum Krieg kommen wird, aber niemand ist sich sicher, wann.
Ich bin an jenem Abend hingegangen, um Mr. Snowden zu hören. Auf dem Nachhauseweg hat sich mir der Kopf gedreht vor lauter neuen Gedanken. Ich habe früher natürlich auch unsere Gewerkschaftsleute gehört, auch Leute wie Mr. Cartwright im Institut, aber alles, was die zu sagen hatten, schien so ortsgebunden. Es betraf das alltägliche Leben und die Arbeitgeber, gegen die man ankämpfen muß, weil sie sich nicht um ihre Arbeiter kümmern, wie Mr. Grindal es tat, bildete ich mir ein.
Mr. Snowden sprach nicht nur von Leeds, sondern über die ganze Welt und was es bedeutete, ein Arbeiter zu sein, egal wo man war. Ich stand so unter Dampf, ich mußte gleich alles Alice erzählen, und sie hörte zu. Manchmal nickte sie, und manchmal runzelte sie die Stirn. Und als ich fertig war, sagte sie: Das klingt alles großartig. Aber ich sollte es am nächsten Tag lieber nicht laut in der Fabrik austrompeten. Das war ein guter Rat, außer daß sich herausstellte, daß Mr. Grindal irgendwie Wind davon bekommen hatte, daß ich bei der Versammlung gewesen war. Es müssen dort Polizeispitzel gewesen sein, von denen mich einer erkannt hatte. Mr. Grindal fragte mich geradewegs, was ich davon halte. Sollte man diesen Snowden nicht nach Deutschland abtransportieren, wo sich die ganzen anderen Feinde
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