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Der Wald des Vergessens

Der Wald des Vergessens

Titel: Der Wald des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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so um, daß sie nicht in der Lage war, die kanonischen Tröstungen ihres Pfarrers aufzunehmen, geschweige denn, sich gegen die patriotischen Platitüden ihrer Ausschußmitglieder oder die phylogenetische Tapferkeit ihres Gemahls, des Honorable Rupert Pitt-Evenlode, JP [15] , zu wehren.
    Nein, es war die Nachricht, daß man Piers lebend und, abgesehen von ein paar harmlosen Schußverletzungen, wohlbehalten aufgefunden hatte, die ihr einen solchen Stich versetzte, daß sie dem Leben zurückgegeben ward. Während man sie freudig beglückwünschte, von möglichem Lametta redete und Pläne für einen Festakt schmiedete, konnte sie an nichts anderes denken als an ihre kürzlich erworbene Erkenntnis, daß dieser Krieg – jeder Krieg – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war und folglich die dafür Verantwortlichen und die Indifferenten Kriegsverbrecher sein mußten.
    Sie versuchte so zu tun, als würde sich ihre Überzeugung angesichts des Überlebens ihres Sohnes in Wohlgefallen auflösen, aber nichts dergleichen geschah.
    Die Söhne anderer Frauen waren gefallen, ohne vom Grabe aufzuerstehen. Wie konnte sie dann so arrogant sein und das Wohlbefinden ihres eigenen Sohnes zur alleinigen Richtschnur erheben?
    Sie versuchte, mit denen über ihre Gefühle zu sprechen, die ihr am nächsten standen, und mußte wieder erleben, daß man für sie betete, ihr mit Herablassung begegnete und sie schließlich auf die Couch eines Psychiaters legen wollte, der gerade der neueste Schrei war und Wunder bei Binky Bullmains nervösen Blähungen bewirkt hatte.
    Piers selbst war weit davon entfernt, der erhoffte Vertraute zu sein, sondern stürzte sich auf die Rolle des dekorierten Helden wie eine Aasfliege auf totes Fleisch und betrachtete eindeutig jede Anspielung auf ihren neuen Gewissenskonflikt als persönliche Beleidigung.
    Aber noch suchte sie immer wieder nach Wegen, ihr neues Selbstverständnis mit ihrer Familie und ihrer politischen Partei zu vereinbaren, und immer wieder mußte sie feststellen, daß man sie ablehnte wie ein neues Herz in einem alten Körper.
    Und so zog sie sich von allem zurück.
    Die alte Amanda Pitt-Evenlode fühlte einen leisen Stich, als die Seufzer anläßlich ihres Scheidens ebensoviel Erleichterung wie Sorge enthielten.
    Der neuen Mandy Marvell hätte es schnurzer nicht sein können.
    Sie hatte mit siebzehn geheiratet, mit achtzehn Piers zur Welt gebracht und die beiden folgenden Jahrzehnte alle Pflichten erfüllt, die einer Frau vom gesellschaftlichen Status ihres Mannes oblagen. Das bedeutete, daß Tennis, Golf und Schwimmen ihren Körper zwar ziemlich gut in Form hielten, ihr Geist jedoch noch weniger beansprucht wurde als die intellektuellen Gaben des Papageis eines Fußballers.
    Nun stellte sie zu ihrem Entzücken fest, daß ein Gedanke zum nächsten führte. Das Glück hatte es gewollt, daß ihr Vater gestorben war, bevor er seinen Vorsatz wahrmachen konnte, das ganze Geld durchzubringen, das
sein
Vater so fleißig angehäuft hatte, und er hatte Amanda ein ausreichend großes Vermögen hinterlassen, um bequem davon leben zu können, während sie gleichzeitig die Unterhaltszahlungen ihres Mannes verschiedenen ausgezeichneten wohltätigen Zwecken zukommen lassen konnte. Sie gab großzügig von ihrer Zeit und Energie, aber sie ließ auch keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen, jene Vergnügungen auszuprobieren, die die Hügel und Täler, Weiden und Felder ihres ruhigen Lebens auf dem Lande nicht hervorgebracht hatten. Sie poppte und kiffte und trank und rauchte; sie las, schrieb, malte und spielte Theater. Sie reiste viel und probierte die meisten Alternativen von der Religion bis zur Medizin aus.
    Zehn Jahre stürzte sie sich von einer Erfahrung in die nächste, und am Ende dieser übervollen Dekade stellte sie fest, daß von all den Leidenschaften nur noch die für mexikanisches Bier, die Lieder Gustav Mahlers und stinknormalen Sex übriggeblieben war. Die Armen lagen ihr nicht mehr ganz so sehr am Herzen wie einst, nicht weil sie etwas Spezielles gegen sie hatte, sondern weil sie ein Symptom für die nicht zu lösende Beschissenheit der Menschheit waren. Die Fünfzig näherten sich vehement. Sie wollte etwas tun, bei dem sie sah, wie es geschah. Aber was?
    Von Zeit zu Zeit war ihr der Gedanke gekommen, daß es interessant sei, aber wohl nichts weiter zu bedeuten hatte, daß ihre lebhaftesten Erinnerungen an die Zeit mit Friedensrichter Rupert mehr Tieren denn Menschen galten. Am Anfang war

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