Der Wald des Vergessens
Quasseln. Schlechte Angewohnheit. Hier, sehen Sie selbst.« Er bediente einen Wandschalter. Unten ging Licht an, keine hellen, modernen Lampen, sondern ein trübes gelbes Geflacker wie von alten Ölfunzeln. Und auch eine Geräuschkulisse, ein dumpfer Basso continuo fernen Geschützfeuers, das von Zeit zu Zeit von dem Soprankreischen vorbeifliegender Granaten oder dem Trommelgestotter von Schnellfeuer übertönt wurde.
»Gehen Sie nur runter«, drängte ihn Studholme.
Pascoe stieg hinab. Mit jeder Stufe fühlte er, wie sich sein Magen mehr zusammenkrampfte und die alte Klaustrophobie ihn in ihren lähmenden Griff bekam.
Am Fuß der Treppe mußte er sich unter einem Vorhang aus Rupfen durchducken, und als er sich wieder aufrichtete, stand er in einem Unterstand des Ersten Weltkriegs.
Gestalten mit glatten weißen Gesichtszügen sahen ihn an, alte Schaufensterpuppen, vermutete er, die nun in Khaki gekleidet waren, aber ihre Gesichter waren alles andere als lächerlich. Es war eine Todesmaske, gleichermaßen entsetzlich, ob sie nun dem Unteroffizier gehörte, der sich über das Feldtelefon auf dem improvisierten Tisch beugte, oder dem Offizier, der auf einem Feldbett lag, ein aufgeschlagenes Buch, vergessen auf der Brust.
In der dunkelsten Ecke lag eine weitere Gestalt, das Gesicht zur Decke, ein Bein mit einer blutdurchtränkten Bandage umwickelt. Ganz in der Nähe seines Fußes schienen zwei große Ratten, deren Augen im gelben Licht aufleuchteten, zum Sprung anzusetzen.
»Herrgott!« rief Pascoe aus, der sich eine Sekunde lang nicht sicher war, ob sie echt oder ausgestopft waren.
»Überzeugend, was?« sagte Studholme mit bescheidenem Stolz. »Hier unten wären auch echte kein Problem gewesen, aber ich wollte nicht, daß mich die Gesundheitsspitzel aufs Korn nehmen. Alles, was Sie hier sehen, ist authentisch. Ausrüstung, Waffen, Uniformen. Alles war an der Westfront.«
»Das auch?« fragte Peter und deutete auf das Buch des schlafenden Offiziers.
»O ja. Es gehörte meinem Vater. Er war kein großer Leser, aber er hat gesagt, zu jener Zeit und an jenem Ort sei es seine Nabelschnur zur Heimat gewesen.«
Peter Pascoe nahm es in die Hand. »Gütiger Gott.«
Es war eine Ausgabe der ursprünglichen Kelmscott Press Edition von William Morris
The Wood beyond the World
[13] .
»Was?« sagte Studholme.
»Dieses Buch, es ist sehr wertvoll, ich weiß nicht wieviel, vielleicht einige Tausend. Sie sollten es hier wirklich nicht so herumliegen lassen.«
»Da spricht der Polizist«, sagte Studholme. »Ich wußte nicht, daß es außer für mich noch für andere einen Wert hat. Aber ich denke, es ist eher unwahrscheinlich, daß die Leute, die hierher kommen, gemeine Diebe sind, oder?«
»Da spricht der Soldat«, sagte Pascoe, öffnete das Buch und las den Eintrag: »Für Hillie, in Liebe von Mama, Weihnachten 1903.« Es war eindeutig ein häufig gelesenes, weit gereistes Buch. Nabelschnur zur Heimat, Weihnachten, Mutter, Kindheit …
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Studholme. »Noch ein bißchen mehr Staub fällt hier gar nicht weiter auf, reicherer Staub [14] verborgen, was? Aber wenn Sie das Gefühl haben, daß es zu makaber ist, dann gibt es noch immer den Rosenstrauch. Ich laß Sie allein, damit Sie überlegen können.«
Er drehte sich um und verschwand die Treppe hinauf. Sorgfältig legte Pascoe das Buch wieder auf die Brust der Puppe und paßte auf, daß er die bleiche Plastikhand nicht berührte.
»So, Oma, wo soll es sein?« sagte er zur Urne, die er neben das Telefon gestellt hatte. »Da oben bei den Blumen oder hier unten bei den Wurzeln?«
Er hatte seine Entscheidung bereits gefällt, aber ein erbärmlicher Anflug von Machostolz hielt ihn davon ab, unverzüglich hinter dem Major herzueilen. Im nächsten Augenblick wünschte er sich, es doch getan zu haben. Eine der Tonbandgranaten flog diesmal nicht vorbei. Ihr Kreischen wurde zu einer riesigen Explosion, deren Suggestivkraft so groß war, daß der ganze Keller zu erbeben schien und gleichzeitig die Lichter ausgingen.
Zufall oder einer von Studholmes Spezialeffekten? fragte sich Peter Pascoe, als er verzweifelt versuchte, der Panik Herr zu werden, die ihn überschwemmte.
Da ging das Telefon, ein vereinzeltes, langes Schnarren.
Peters Hand schoß vor, um den Hörer zu packen, stieß gegen etwas, fand dann aber den Hörer.
»Hallo!« kam eine Stimme, blechern und weit weg. »Wer ist am Apparat?«
»Hier spricht Pascoe!«
»Pascoe? Was zum Teufel
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