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Der Wald des Vergessens

Der Wald des Vergessens

Titel: Der Wald des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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aber sie konnte einem das Fürchten lehren. Mit ein bißchen Glück könnte Dalziel sich diesmal übernommen haben.
    Sie sah sich wieder nach Wendy um. Noch immer kein Zeichen von ihr. Verdammt, Wendy wäre gut beraten, aufzutauchen. Sie hatte bereits das Gefühl, ihre Pflicht gegenüber der Gewerkschaft erfüllt zu haben, und der eine Drink, den sie sich genehmigte, wenn sie Auto fuhr, würde nicht mehr lange reichen. Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Sie drehte sich mit den Worten um: »Da bist du ja.« Doch statt Wendy lächelte Arthur Halfdane sie an, Historiker und ehemaliger Kollege, dessen Karriere auf Kosten seines frischen jungen Gesichts und Lockenkopfes Fortschritte gemacht hatte.
    »Ellie«, sagte er. »Sie sehen großartig aus. Hier ist jemand, den ich Ihnen vorstellen möchte. Jemand von der Universität Melbourne. Verbringt ein Forschungsjahr hier. Einfach faszinierend.«
    Aufgrund bitterer Erfahrungen wußte Ellie, daß die Linguisten gewöhnlich Schlänglein mit geschmeidigen Zungen waren und englische Literaturwissenschaftler meist sowohl die Träne als auch die Zähne von Krokodilen hatten. Doch der gefährlichste Vertreter der akademischen Fauna war der lächelnde Historiker, der eine Last abzuwälzen hatte.
    Hinter Halfdane konnte sie ein ausgetrocknetes Männlein mit unregelmäßigen gelben Zähnen ausmachen, um dessen Stirn ein roter Strich verlief, der entweder von einer kürzlichen Gehirnoperation oder einem knapp sitzenden Hut mit Korkeinlage stammte.
    Sie tauchte ab in den Windschatten einer fröhlich aussehenden Enddreißigerin in einem geblümten Strampelanzug, der sich an allen Ecken dehnte, um ihre überschwengliche Fleischesfülle zusammenzuhalten, und zischte: »Danke vielmals, nein, danke. Ich habe meine Kiwi-Quote dieses Jahr erfüllt.«
    »Völlig in Ordnung, Mädel. Ich kann euch verdammten Tommys auch nicht ausstehen«, sagte die Frau mit der Rubensfigur, nun mit einem noch breiteren Lächeln.
    »Ellie«, sagte Halfdane, »darf ich Ihnen Professor Pollinger vorstellen«, und bedachte Ellie mit dem selbstgefälligen Lächeln, das Jahrhunderte des Rechthabens in allen Dingen, die länger als fünfzig Jahre zurücklagen, hervorgebracht hatte.

Fünfzehn
    P eter Pascoe lag da und fühlte, wie das Gewicht der Dunkelheit auf ihm lastete.
    Peine forte et dure
[18]  … Wer hatte noch gesagt: »Mehr Gewicht?« … Und war es Trotz oder bloß die Bitte gewesen, ein ohnehin sicheres Ende zu beschleunigen?
    Idiot! sagte er zu sich. Du bist wie gewöhnlich durch den Wind. Was für einen Grund zur Verzweiflung hast du denn? Es gibt welche da draußen, die haben nichts als die Dunkelheit zwischen sich und dem Himmel … Soldaten und Bedürftige, die nicht in der Lage sind, sich zu freuen … die Verlorenen, die Besitzlosen … während ich hier liege, mit einer geliebten Frau und Tochter …
     
    … mit einer Frau und einer Tochter, die mich lieben. O Alice, Ada, der Gedanke an euch sollte mir Kraft geben zu kämpfen. Warum bringt mich der Gedanke an euch an den Rand der Hoffnungslosigkeit?
    Weil ich nicht glauben kann, daß das hier für euch ist. Nichts davon. Wie können der Dreck, die Fäulnis, das Blut, die gebrochenen Knochen und verstreuten Glieder, die Läuse, die Ratten, die hilflose, hoffnungslose, gleichgültige Hölle irgend etwas mit euch zu tun haben? Wovor schützen euch diese Greuel? Vor einem kinderschlachtenden Hunnen auf einem Plakat? Ich habe es gesehen, das Monstrum. Ich habe es tot gesehen, und ich habe es lebendig gesehen. Und tot liegt es genau so da wie meine Kameraden. Dasselbe Blut quillt aus den zerschmetterten Gliedmaßen. Dieselbe Fassungslosigkeit steht in denselben ratlosen Augen.
    Und lebend sieht es wie ein Junge aus, der sich verirrt hat, das Monster, voll entsetzlicher Angst, daß sich die dargebotene Hand mit der Zigarette zur Faust ballen könnte. Und wenn er Vertrauen gefaßt hat in meine Freundlichkeit, faßt er in seine Jacke und zeigt mir Bilder von seiner Alice und seiner Ada.
    Ist das das Monstrum, vor dem ich euch beschütze? Bin ich das Monster, vor dem er seine Familie in der Heimat beschützt? Ich weiß es nicht. Es muß doch einen Grund geben, und wenn es der nicht ist, was dann?
     
    Pascoe rollte sich aus dem Bett und verließ das Zimmer auf Zehenspitzen.
    Einschlafen würde er heute nicht mehr. Er hatte es in dem Augenblick gewußt, als Studholme ihm die Wahrheit gesagt hatte. Der Major, der erst so zurückhaltend gewesen war und

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