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Der Wald des Vergessens

Der Wald des Vergessens

Titel: Der Wald des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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angreifbar«, sagte Pascoe, der sein Urvertrauen in die schützende Macht des Gesetzes nur ungern aufgab.
    »Sie wollen sagen, Kapitalverbrechen sollten von Militärgerichten genau so beurteilt werden wie von ordentlichen Gerichten? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wenn mein Gedächtnis nicht trügt, wurden etwa dreißig Soldaten wegen Mordes verurteilt, aber auch ihnen wurde der Verteidiger vorenthalten, der ihnen vor einem ordentlichen Gericht zugestanden hätte. Bleiben etwa dreihundert Kerle, die hingerichtet wurden, weil sie so schreckliche Verbrechen begangen hatten wie völlig verstört zu sein, die Hosen voll zu haben, nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben oder komplett durchgedreht zu sein und einem hohen Tier das Lametta geknickt zu haben. Das hat nichts mehr mit Recht zu tun, das ist gottverdammte Willkür!«
    Pascoe lächelte und sagte leise: »Nun, ich bin froh, daß Sie das Thema so ganz im Geiste akademischer Unparteilichkeit angehen.«
    »Nun setzen Sie sich ja nicht aufs hohe angelsächsische Roß, Pascoe«, sagte sie bissig. »Ihr Tommys solltet niemals vergessen, daß wir Australier es sind, die auf diesem Gebiet die Moral auf unserer Seite haben. Da konnte euer Oberbefehlshaber noch so viel Druck machen, die australische Regierung hat sich geweigert, euer primitives Militärrecht zu übernehmen. Für einen australischen Soldaten galt, was zivil kein Kapitalverbrechen war, war auch keins in der Armee. Zum Glück. Denn sonst säße ich vielleicht nicht hier.«
    »Wieso?«
    »Mein Urgroßvater war bei Gallipoli, als er heimkehrte, rief man ihn Jolly Polly. Bei irgend so einem Durcheinander geriet er unter das Kommando von einem eurer Leute, der ihm und anderen befahl, bei hellichtem Tag über ein kahles, steiniges Terrain vorzurücken, das die Türken mit einem halben Dutzend Maschinengewehren belegt hatten. Er sagte: ›Zieh nur los, Kamerad, ich hol dich ein, wenn ich die Haare aus meiner Nase entfernt habe.‹ Der britische Offizier wollte ihn vors Kriegsgericht stellen, wegen Feigheit, wegen Befehlsverweigerung, wegen allem möglichen Kram, auf dem bei euch Tommys die Todesstrafe stand. Sein eigener Offizier verdonnerte ihn dazu, zwei Tage Scheiße zu schaufeln, wogegen niemand was hatte, weil man aus der Schußlinie blieb.«
    Pascoe lachte und sagte: »Hübsch. Es freut mich, daß er es in die Heimat geschafft hat und seinen Samen säen konnte.«
    »Heiliger Bimbam. Wie ihr euch ausdrückt! Aber weil ich eine sentimentale Kuh bin und wir beide Urgroßväter hatten, die eine Welt schufen, die für Helden wie wir geeignet ist, setze ich mich darüber hinweg, daß Ihrer ein eingebildeter Tommy und obendrein ein Faschist war. Haben Sie einen festen Wohnsitz, oder hausen Sie für Ihre Jagd nach Verbrechern auf der Straße?«
    Pascoe holte seine Visitenkarte mit der Privatadresse hervor.
    »Ich melde mich bei Ihnen, aber halten Sie unterdessen nicht den Atem an. Gott, stimmt die Zeit? Ich muß einen Zug kriegen.«
    »Lohnt sich die Reise?«
    »London. Und ja, ich beschmutze mir die Finger im Archiv des Verteidigungsministeriums, aber das heißt nicht, daß ich die Gelegenheit oder selbst die Neigung habe, Ihr spezielles Stück Dreck auszugraben.«
    Sie funkelte ihn an, um es ihm ein für alle Mal klarzumachen, dann lösten sich ihre Züge, und sie lächelte.
    »Aber ich tu, was ich kann«, sagte sie.
    »Selbst ein eingebildeter Tommy könnte nicht mehr verlangen«, sagte er, ihr Lächeln erwidernd.
    Sie goß die letzten Zentimeter ihres Biers hinunter und verschwand von der Bildfläche. Pascoe kam es so vor, als würde der ganze Club einen Kollektivseufzer ausstoßen, bevor er in noch seligeren Schlummer versank.
    Er war versucht, dem Beispiel zu folgen. Sein Sessel war anheimelnd, weich und tief. Doch noch nicht eingelöst, was ich versprach.
    Er stand auf und ging, um seine Versprechen einzulösen. [27]

Sechs
    P ascoe lag richtig, aber auch falsch, was Dalziels Gemütsverfassung betraf, als sie sich an jenem Morgen trennten.
    Cap Marvell hatte ihn tatsächlich eingeladen, zum Mittagessen wieder bei ihr vorbeizuschauen, und die Aussicht erfüllte ihn mit einer Ausgelassenheit, wie er sie nicht mehr erlebt hatte, seit er ein junger Mann war.
    Aber heutzutage hielt ein Bauch voll solider Erfahrungen und zynischer Beobachtungen einen ausgelassenen Kopf vom Abheben ab, und er war sich alles andere als sicher, ob er zu Cap gehen sollte.
    Am Vorabend hatte er widerstanden, aber es war nicht

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