Der Wald des Vergessens
es Entlassungsschreiben. Hier, noch einen Schluck. Sie sind sichtbar schockiert.«
»Ich kann’s verkraften«, sagte Dalziel. »Sie lagen also auf der Straße, hatten Geld in der Tasche und zehn oder so Jährchen Berufserfahrung im Rumkommandieren und Totschießen. Und da haben Sie einen Wachdienst aufgemacht.«
»Was sonst? Die einzige Arbeit, für die ich die richtigen Voraussetzungen mitbringe, nämlich Nerven wie Drahtseile, hartgekochte Eier und eine generelle Gleichgültigkeit gegenüber der Empfindlichkeit der Leute, die mir im Wege stehen, wäre ihr Job gewesen, Kommissar. Aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, jahrelang eine Zipfelmütze tragen zu müssen. So, nachdem wir mich katalogisiert haben, wie kann ich Ihnen heute zu Diensten sein?«
Gar nicht übel, dachte Dalziel. Berechnend, selbstbewußt und frech, aber nicht herablassend, das mußte man ihm lassen. Seine wehrhafte Parade auf Dalziels Angriff war frei von jeder Überheblichkeit gewesen, und das war gewissermaßen entwaffnend. Wenn man es genau nimmt, hat der Kerl es fertiggebracht, daß ich mich geschmeichelt fühle, daß er denkt, ich sei so gut wie er! dachte der Dicke. Vor jemandem, dem das gelingt, muß man wahrlich auf der Hut sein.
Er sagte: »Und wie ist es gekommen, daß ein mieser kleiner Laden, der noch nichts Nennenswertes auf die Beine gestellt hat, einen Vertrag bei einer Firma wie ALBA an Land zieht?«
»Tja, jetzt geht’s ans Eingemachte«, sagte Sanderson. »Leider geht das alles auf eine homosexuelle Beziehung zurück.«
»Was?«
»Ich und David Batty. Wir gingen zur selben Privatschule und haben uns hinter dem Fivesplatz [28] einen abgewichst. Alle haben das gemacht. Wenn man an die zweihundert heranwachsende Jungs monatelang von jeglicher weiblicher Gesellschaft fernhält, was kann man da anders erwarten? War natürlich in den meisten Fällen reiner Zeitvertreib, aber gemeinsame Erlebnisse dieser Art zementieren in der Tat erwachsene Beziehungen. Darum geht es im Grunde bei dem ganzen Vitamin B unter alten Schulkameraden. Nicht die freimaurerischen Handschläge bringen einen weiter, sondern das Wissen, wo diese Hände mal gewesen sind.«
»Und Sie sagen, Dr. Batty hat Sie hier reingesetzt, weil Sie zusammen auf derselben Schule waren?«
»Darauf läuft es hinaus, auch wenn ich ihm ein wenig nachgeholfen habe. Ich habe im hiesigen Käseblättchen über den Anschlag im vergangenen Sommer gelesen und gedacht, Sicherheitsproblem, da könnte eine junge, expandierende, technisch spitzenmäßig ausgestattete Firma Aussichten haben. Ich habe also zum Hörer gegriffen und mich zu einem Glas eingeladen. Ihm gefiel, was ich ihm vorzuschlagen hatte, und so sind wir nun hier.«
»Ihr Vorschlag war, den halben Wald umzuwühlen und das Gelände wie Colditz einzuzäunen?«
»Hübsch ist die Lösung nicht, aber es funktioniert«, sagte Sanderson. »Niemand kommt rein, der nicht reinkommen soll.«
»Neulich abends aber doch.«
»Ja, es ist ihnen wohl geglückt«, sagte Sanderson bedauernd. »Trojanisches Pferd. Beziehungsweise trojanisches Skelett. Passiert nicht wieder. Übrigens, vermutlich haben Sie sich bereits über die Möglichkeit Gedanken gemacht, daß die die Knochen selbst mitgebracht haben? Sorry, das war herbe. Als wollte ich meiner Oma was beibringen.«
»Ja«, stimmte Dalziel ihm zu. »Eine weitere Möglichkeit, über die wir nachdenken, ist die, daß die Überreste bei der Rodung im vergangenen Sommer von den Bauleuten oder vielleicht von Ihnen selbst bemerkt wurden, man aber davon ausging, daß es einfacher ist, einen Haufen Dreck über den Knochen aufzutürmen, als das Ganze durch eine Ermittlung aufhalten zu lassen.«
»Vermutlich würden Sie das als ein schweres Vergehen bezeichnen?« sagte Sanderson.
Dalziel erwiderte sein Lächeln nicht.
»Schlimmer«, sagte er.
»Dann bin ich froh, daß ich ausnahmsweise mit gutem Gewissen behaupten kann, vollständig unschuldig zu sein.«
Überrascht stellte Dalziel fest, daß er geneigt war, ihm zu glauben.
Sanderson sah auf seine Uhr.
Er sagte: »Die Zeit vergeht. Ich gehe manchmal zum Grünen Baum, im Dorf. Das Bier dort ist nicht übel. Kommen Sie mit?«
Dalziel zögerte. Zumindest dachte er, daß er zögerte. Aber wenn das tatsächlich der Fall gewesen war, sagte jemand, der seine Stimme ziemlich gut imitierte: »Nein, danke. Ich bin zum Essen verabredet.«
Nachdem er die Worte einmal laut ausgesprochen hatte, kam es ihm interessanterweise nicht mehr in
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