Der Wald des Vergessens
Sie … Interesse an der Familie …«
»Ja, ja, kenn ich. Man schaut am Stammbaum hoch und sieht mal nach, wer da oben so baumelt. Da müssen Sie mir schon mit einer besseren Erklärung kommen.«
Pascoe nippte an seinem Hellen, dann sagte er: »Tut mir leid. Ich bin mir nicht sicher, daß ich überhaupt weiß, warum … oder was ich tun möchte … Wie ich schon sagte, ich habe es gerade erst erfahren, aber seither habe ich kaum an etwas anderes denken können. Vermutlich will ich verstehen, wie … warum … und ob ein Justizirrtum vorliegt …«
»Sind Sie für die Todesstrafe, Pete?« unterbrach sie ihn.
Er sah sie erstaunt an, dann versuchte er zu antworten.
»Nein. Die Todesstrafe ist barbarisch. Aber sie ist eine Barbarei, die von Zeit zu Zeit Teil unseres Rechtssystems war, und wenngleich ich froh bin, daß sie hinter uns liegt, würde ich die Tatsache, daß es sie gibt, nicht für die Argumentation benutzen, daß man für Mord nicht belangt werden darf.«
»Gut pariert, Pete. Und wenn Sie das wirklich glauben, sind Sie alle Sorgen los. Ihr eigener geliebter Premier hat Entsprechendes im Parlament geäußert. Es gebe keinen Grund, die armen Teufel posthum zu begnadigen. Was immer wir heute von der Strafe halten mögen, sie wußten, was unter den damals geltenden Militärgesetzen und den Bedingungen, unter denen gedient werden mußte, auf sie zukam. Wenn man diesen Weg einschlage, würde es damit enden, daß man eine ganze Herde von Schafsdieben begnadigte. Ist das auch Ihre Auffassung, Pete?«
»Das Gesetz ist manchmal ein Esel«, sagte Pascoe vorsichtig. »Zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten ist das Gesetz häufig schlimmer als ein Esel, es ist eine Hyäne und ernährt sich von Menschenfleisch. Doch wenn ein Mensch wegen eines Schafes gehängt wird, das er nicht gestohlen hat, dann wurde das Gesetz, ob nun Esel oder Hyäne, mißbraucht. Und das ist ein Unrecht, über das man nicht einfach mit einem Schulterzucken hinweggehen kann, auch wenn es sich vor tausend Jahren ereignet hat.«
Das Erstaunen auf ihrem Gesicht hätte von einer Comicfigur stammen können.
»Sind Sie sich ganz sicher, daß Sie Polizist sind, Pete? Ihr Boss läßt Sie tatsächlich ganz allein auf die Straße? Es gibt also vielleicht doch noch Hoffnung für dieses gottverlassene Land. O. K. Sie haben mich fast überredet. Von Anfang an.«
Also packte Pascoe aus. Sie machte sich Notizen, und als er fertig war, sagte sie: »Es besteht also noch immer ein gewisser Zweifel, daß dieser Feldwebel Pascoe wirklich Ihr Urgroßvater war?«
»Es gibt da ein Geheimnis, aber wenig Zweifel. Meine kleine Tochter hat einen Blick auf das Foto geworfen und mich gefragt, warum ich mich verkleidet hätte. Ich sehe die Ähnlichkeit leider nicht so deutlich, aber ich habe schließlich auch immer geglaubt, ein Abbild Rudolph Valentinos zu sein.«
Sie betrachtete sein schmales, lebendiges, englisches Gesicht unter dem unordentlichen hellbraunen Haarschopf und lächelte.
Er lächelte ebenfalls. »Also, wenn Sie über Feldwebel Pascoe stolpern …«
»He, das ist hier kein Hürdenlauf. Ich interessiere mich, auch wenn ich mich noch nicht endgültig festgelegt habe, für alle FGCM -Todesurteile, nicht nur für diejenigen, die bestätigt wurden …«
»Wie bitte?« sagte Pascoe. » FGCM ?«
»Field General Court Martial. Im Unterschied zum regulären Kriegsgericht, bei dem mindestens fünf Offiziere und ein juristisch geschulter Beisitzer anwesend sein mußten. An der Front war das nicht immer zweckmäßig, es sei denn, ein Offizier war angeklagt. Der Feld-, Wald- und Wiesensoldat wurde vor ein FGCM gestellt, bei dem nur drei Offiziere vonnöten waren und ein Beisitzer nicht in Sichtweite zu sein brauchte. Man sieht schon, warum. Vereinfachte das Leben – oder den Tod – beträchtlich, wenn man an der Front war.«
»Und was verstehen Sie unter bestätigt?«
»Nachdem das Urteil gefällt worden war, durchwanderte es den Dienstweg, damit jeder seinen Senf dazugeben konnte, bis es im Schoß des Oberbefehlshabers landete. Wenn der das Urteil bestätigte, war der Ofen aus. Die Armee verteidigt sich damit, daß nur zehn Prozent der Todesurteile tatsächlich bestätigt wurden. Und wenn man dann ausrechnet, daß über dreihundert Hinrichtungen von 1914 bis 1918 über dreitausend Todesurteile bedeuten … spätestens dann setzen die Zweifel an den grauen Zellen der Militärs ein.«
»Aber mit Sicherheit sind nicht alle Urteile
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