Der Wald des Vergessens
schluchzte es. Das lag am Schlamm. Wenn man erst einmal verwundet war und allein, blieb man schnell stecken. Die Männer, die mit den Tragbahren kamen, gaben sich redliche Mühe, aber oft brauchte man ein halbes Dutzend Leute, um einen Verwundeten aus dem Schlamm zu ziehen. Gott allein weiß, wie viele gestorben sind, die man hätte retten können, wenn sie es nur bis zu einem Sanitätsposten geschafft hätten. Als ich sagte: Hört mal, das ist Steve, dachten sie alle, ich leide an Wahnvorstellungen. Aber ich kannte seine Stimme. Und nun rief er obendrein noch meinen Namen: Pete, Pete. Also habe ich nicht lange nachgedacht, sondern bin aus dem Graben, bevor mich jemand aufhalten konnte. Mit Tapferkeit hat das nichts zu tun. Ich wußte nur, ich würde nie nach Kirkton heimkehren und die üblichen Lügen von mir geben können, er sei wie ein Held gestorben, wenn ich ihn dem langsamen Tod im Morast überlassen hätte.
Ich trug ein Stück Seil um die Taille gebunden. Das hatten wir beim ersten Angriff auf Sanctuary Wood gelernt. Jammy hatte es geschafft, eine ganze Rolle aufzutreiben, während wir Ruhepause hatten, und jeder Soldat des Zugs bekam eine Länge. Und ich hatte Verbandszeug bei mir. Davon abgesehen hatte ich nichts. Ich hatte mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, meine Knarre mitzunehmen. Ich wollte nicht da raus, um jemanden umzubringen. Aber es gab genug Leute, die das anders sahen.
Von Zeit zu Zeit ging auf der einen oder anderen Seite Leuchtmunition hoch, und ich mußte an die Hirten auf dem Felde denken und wie alles in Herrlichkeit erstrahlte. Es war wie jene Herrlichkeit, will sagen, eine Weile sah man alles vollständig klar, dann kam die Dunkelheit zurück, schlimmer als zuvor, und ich mußte still liegen bleiben, bis ich wieder sehen konnte. Aber was für ein Anblick bot sich mir unter dem weißen Lichtblitz. Seit über einer Woche hatten wir um dieses Gebiet gekämpft, vor und zurück, und es gab kaum einen Granattrichter, in den ich auf meiner Suche nach Steve hineinschaute, der nicht besetzt war. In meiner Verzweiflung, Steve zu finden, und sei es auch nur, um mir sicher zu sein, daß er tot war, drehte ich die Leichen um. Und manchmal waren es Männer, die ich kannte, und manchmal waren es Männer, die von ihrer eigenen Mutter nicht erkannt worden wären. Aber keiner war Steve.
Ich getraute mich nicht, ihn zu rufen, aus Angst, dass der Fritz dann wissen würde, daß ich da draußen war. Aber irgendwann war das besser, als endlos durch die Hölle zu robben, und so schrie ich Steves Namen. Und entdeckte, daß man selbst in höchster Angst noch zusammenzuckt, denn Steves Antwort kam aus solcher Nähe, daß er mir direkt ins Ohr zu schreien schien. Ich drehte den Kopf und spähte in ein düsteres, tiefes Loch. Nach einer Weile bewegte sich etwas darin. Etwas Dunkles in der Dunkelheit. Dann sah ich einen winzigen hellen Fleck, einen Splitter Weiß. Einen Punkt, den ich ins Visier nahm. Es war ein Auge. Und wie ich hinschaute, bildete sich ein Gesicht um das Auge, und Steves Stimme sagte: Du hast dir aber verdammt Zeit gelassen.
Gertie hat gesagt, daß es dich und Jammy erwischt hat, sagte ich. Da liegt er nicht ganz daneben, sagte Steve. Mit Sicherheit hat er recht, was Jammy betrifft. Was für eine Scheiße, sagte ich. Wo ist er, Steve? Wo ist Jammy? Er sagte: Ich glaube, ich steh auf ihm.
Inzwischen konnte ich erkennen, daß er in einer verflixten Lage war. Egal, was für Verletzungen er hatte. Die linke Kopfseite lag auf der Oberfläche des Morasts, und von seinem Körper waren nur der rechte Arm und die Schulter nicht untergegangen. Ich warf ihm das Ende meines Seils zu, er ergriff es mit seiner einen Hand und wickelte es um das Handgelenk, bis es fest war, und ich begann zu ziehen. Das Stück Erde, auf dem ich lag, war mit allem möglichen Kram übersät, so daß die Stelle fester war, als alles, worüber ich bisher in dieser Nacht gekrochen war. Doch noch nicht einmal dieser Halt reichte, um ihn aus dem Schlamm zu ziehen. Und alle seine Bemühungen, sich zu befreien, führten nur dazu, daß er tiefer versank.
Es hat keinen Sinn, Pete, sagte er. Das war’s. Sag Mary, sie kann sich jedem an den Hals werfen, bei dem sie Lust dazu verspürt, aber wenn sie sich nicht ordentlich um den kleinen Steve kümmert, komm ich wieder und verfolge sie als Gespenst.
Wir hatten nie darüber gesprochen, aber so erfuhr ich, daß er Bescheid darüber wußte, was die Spatzen in Kirkton vom Dach pfiffen.
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