Der Wald des Vergessens
Daß seine Mary sich nicht gerade für die Rückkehr ihres Helden aufsparte.
Ich sagte: Nun red aber keinen Blödsinn. Ich hol Hilfe. Wir holen dich hier gleich raus. Und er sagte: Gütiger Gott, laß mich hier nicht allein. Gib mir eine Kugel in den Kopf, bevor du gehst. Ich sagte: Geht nicht, ich habe meine Knarre nicht dabei. Sagte er: Dafür kannst du gehängt werden. Warum üben wir nicht schon mal? Ich lege das Seil um meinen Hals, und du ziehst an deinem Ende und siehst mal, ob du genug Kraft hast, mich zu erwürgen.
Gott steh uns bei. Ich glaube nicht, daß er einen Scherz machte. Aber bevor ich zu einem Entschluß kommen konnte – und wozu ich mich entschlossen hätte, werde ich nie wissen –, ging wieder eine Leuchtrakete in die Luft, und bei ihrem Licht sah ich, daß Gott mir die Macht genommen hatte, eine Entscheidung zu fällen. Auf der anderen Seite des Trichters kauerten vier deutsche Soldaten. Drei mit Gewehren und einer, der Offizier, mit einer Pistole, die alle auf mich gerichtet waren.
Ich dachte an Weglaufen. Und dachte daran, mich zu ergeben. Und ich dachte an Alice und Ada und Kirkton. Und während mir all diese Dinge durch den Kopf gingen, hob ich das Ende des Seils hoch und sagte: Mein Bruder.
Das deutsche Wort für Cousin kannte ich nicht, und vielleicht wäre es auch nicht so wirksam gewesen, aber Bruder ließ sie gerade lange genug innehalten, daß der Offizier etwas sagen konnte. Das Geknatter der Gewehre blieb aus. Langsam erlosch das Licht. Ich hielt ganz still. Wohin hätte ich rennen sollen? Und als ich wieder sehen konnte, waren sie an meiner Seite.
Ich glaube, sie haben überprüft, daß ich keine Waffe trug, nur mein Verbandszeug. Vielleicht dachten sie, daß ich ein Sanitäter war oder so etwas. Vielleicht hatte der Offizier einen Bruder in den Gräben. Er war jung. So alt wie Gertie, würde ich sagen. Seine Augen waren eingesunken und von tiefen Schatten umgeben, wie wir sie alle haben, die wir schon zu lange an der Front sind. Was gibt es noch über ihn zu sagen? Nichts. Und alles. Erkennen würde ich ihn nicht, wenn ich ihm auf der Straße begegnete. Aber ich wünsche ihm alles Gute und daß er sicher wieder in die Heimat kommt. Denn er sprach noch einmal mit seinen Leuten, und sie nahmen mir das Seil ab und machten sich ans Ziehen. Und langsam glitt Steve aus dem entsetzlichen Loch.
Ich glaube, daß der Offizier einen Augenblick überlegte, ob er uns gefangennehmen sollte. Es wurden Worte gewechselt. Der Offizier sah von mir zu Steve, der halb bewußtlos an meiner Seite lag. Ich denke, er sagte, daß es ein ganzes Stück gefährlicher war, uns mitzunehmen, als uns unserem Schicksal zu überlassen.
Was auch immer. Er sprach Englisch mit mir. Den einen Satz: Viel Glück. Dann zogen sie ab. Und Steve und ich waren uns selbst überlassen und ohne alle Sorgen, außer wie wir beide, einer verwundet, der andere erschöpft, zu unseren Schützengräben zurückkamen, ohne auf dem Weg im Schlamm steckenzubleiben und unterzugehen, in die Luft gejagt zu werden oder von Freund oder Feind erschossen zu werden.
Aber wir haben es geschafft. Und durch ein letztes Wunder beinahe genau bis zu der Stelle, wo ich aus dem Graben geklettert war. Die Dämmerung erhellte den Himmel im Osten, und die Jungs waren in Bereitschaft. Deshalb habe ich es riskiert, zu rufen, weil das weniger gefährlich war, als für einen heimlichen Angreifer gehalten zu werden. Und einige Augenblicke später trank ich einen Becher Tee, während Steve auf einer Trage nach hinten gebracht wurde.
Es war komisch. Als der Rest des Zugs erfuhr, daß er O. K. sein würde, obwohl er einen Heimatschuß abbekommen hatte, wurde er schnell von einem armen Teufel zu einem Glückskind. Wofür sich die Jungs wirklich interessierten, war unsere Begegnung mit den Hunnen. Als sich die Sache rumsprach, kamen Männer von anderen Zügen zu mir und fragten mich aus. Hier draußen haben wir den Hunnen nie so sehr gehaßt, wie es die Menschen in der Heimat tun. Man ist sich zu sehr bewußt, daß er im selben verdammten Boot sitzt. Und meine Geschichte löste vielleicht den Traum aus, daß wir hier draußen irgendwie das erreichen könnten, was am Verhandlungstisch nicht gelang, nämlich unseren eigenen Privatfrieden zu schließen.
Ich wußte nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich Gertie sah. Oder wie er reagieren würde, wenn er mich sah. Nach dem zu urteilen, was Steve erzählte, war es möglich, daß er wirklich geglaubt hat,
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