Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wald des Vergessens

Der Wald des Vergessens

Titel: Der Wald des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
Vom Netzwerk:
Überzeugung, daß er etwas übersah, das so in die Augen sprang wie ein Betrunkener auf einem Pfarrfest. Merkwürdigerweise machte der Zweifel ihn nicht unglücklich. Die letzten paar Monate, seit er in Corpse Cottage in Enscombe wohnte, hatten ihn irgendwie entkrampft, befreit und zum ersten Mal seit mehr Jahren, als zu erinnern ihm lieb war, das ganze emotionale Spektrum in all seiner Farbenpracht in seine Reichweite gerückt. Und wenn er einerseits mit finsteren Selbstzweifeln dafür bezahlen mußte, daß er sich andererseits strahlender Selbstbewußtheit erfreute, dann war das von seiner Warte aus O. K. Mehr als O. K., es war ein echtes Geschäft.
    Das Wasser kochte. Er zerdrückte den Tee, eine merkwürdige chinesische Mischung, auf der Edwin bestand. Es sei, hatte er naserümpfend gesagt, eine Gewohnheitssache. Das gelte auch für das starke Gebräu, das er vorziehe, hatte Wield erwidert – zur Gewohnheit geworden durch Jahre, in denen er keine andere Wahl hatte –, und er sah keine Veranlassung, sich dessen zu brüsten.
    So umtänzelten sie einander, kreuzten die Klingen und kämpften auch manchmal. Jede Auseinandersetzung war ein Lernprozeß, und das Resultat war meistens, daß sie sich ein klein wenig nähergekommen waren.
    Er stellte zwei Porzellanbecher, die Scheiben einer frisch geschnittenen Zitrone und eine Zuckerdose auf das Tablett und trug es nach oben.
    Edwin Digweed saß lesend im Bett. Manchmal kam es Wield so vor, als strömten die alten Bücher geradezu herbei, wenn immer sein Lebensgefährte irgendwo den Fuß hinsetzte. Er bedachte den Stapel auf dem Nachttisch mit einem mißtrauischen Blick. Er schien mindestens drei Bände höher als am gestrigen Morgen zu sein. Digweeds Antiquariat im Dorf ächzte manchmal durchaus vernehmbar unter dem Gewicht der Worte, die sich auf allen waagrechten Flächen auftürmten. Als Digweed hinaus ins Corpse Cottage zog, hatten sich die Bücher wie Wasser in einem sinkenden Schiff in den Bereich über dem Laden ergossen, in dem der Antiquar bis dahin gewohnt hatte. Doch bei der Lagerung von Büchern blieb Wield eisern. Er hatte nichts gegen Bücher in Bücherregalen. Aber Bücher auf Fensterbänken und Treppen, in Küchen- und Badezimmerschränken, unter Spülsteinen und über Kleiderschränken, Bücher, die sich in jeder Nische, jedem Winkel und an jeder leeren Stelle des Hauses vermehrten, entsprachen nicht seinem Einrichtungsideal.
    »Du bist früh auf«, sagte Digweed. »Schlechtes Gewissen?«
    »Nicht so schlecht, daß man es merken würde«, sagte Wield und kletterte zurück ins Bett. »Nur die TecSec-Sache.«
    Als er und Edwin sich zusammengetan hatten, war sein erster Impuls gewesen, damit weiterzumachen, was seit zwanzig Jahren seine eiserne Regel gewesen war, nämlich Berufs- und Privatleben völlig zu trennen. Aber er hatte entdeckt, daß er es müde war, immer aus verschiedenen Schubladen zu leben, und so hatte er angefangen, von seiner Arbeit zu sprechen und noch nicht einmal großes Aufheben von deren Vertraulichkeit zu machen. Seiner Erfahrung nach war jemand, den man schwören lassen mußte, nichts zu verraten, sowieso der letzte Mensch auf Erden, dem man etwas mitteilen sollte.
    Er sprach nicht über alles, aber wenn etwas sein Gemüt so sehr verklebte, daß auch die Fahrt das Een-Tal hinauf keine reinigende Wirkung zeigte, dann hatte Edwin seiner Meinung nach das Recht zu wissen, was los war. Dabei ließ sein Lebensgefährte gar nicht erkennen, daß er es für ein Recht hielt, für das es sich zu demonstrieren gelohnt hätte, da sein Interesse häufig peripheren, um nicht zu sagen exzentrischen Dingen galt.
    »Wanwood«, hatte er gesagt, als Wield zum ersten Mal von seiner TecSec-Besessenheit (denn so hatte er sein Interesse insgeheim getauft) gesprochen hatte. »Ohne Zweifel nach Wanwood Forst benannt. Sehen wir doch mal nach.«
    Und ein weiteres Buch war aufgetaucht, über dem er brütete, bevor er es auf einen der in die Höhe schießenden Stapel legte.
    »Ja, da ist es. Wanwood House, ursprünglich ein Jagdsitz im königlichen Forst von Wanwood, der sich im Mittelalter von Mid-Yorkshire fast bis nach Doncaster erstreckte. Wurde von Heinrich Sieben zusammen mit Land an Sir Jeffrey Truman für treue Dienste bei Bosworth als Lehen vergeben. Die Familie prosperierte während der nächsten drei Jahrhunderte, Niedergang im 18. Jahrhundert. Gegenwärtig ist das Haus eine Ruine – und dies ist wann geschrieben, laß mich nachsehen, 1866.

Weitere Kostenlose Bücher