Der Wald - ein Nachruf
gewachsen, entstammt einem Wurzelstock, der 9 550 Jahre alt ist und bis heute munter und gesund lebt. Das hatte man dieser Baumart bisher nicht zugetraut.
Aber kommen wir zurück zu unserer früheren Königin der Wälder, der Buche. Sie wird auch als »Mutter des Walds« bezeichnet. Fachleute beziehen dies auf ihre günstige Wirkung hinsichtlich Bodenfruchtbarkeit und Kleinklima, ich würde das gern auf den »Charakter« und die Lebensweise dieser Bäume ausdehnen.
Im Frühjahr regt sich zartes Grün im Laub eines alten Buchenwalds. Nun durchbrechen Tausende von Keimlingen ihre Samenhüllen und überziehen den Boden wie ein Heer von Schmetterlingen. Ihre ersten Blättchen sind paarweise angeordnet und gleichen kleinen Faltern, ganz anders als die Blätter erwachsener Bäume.
Jeder Baum will groß werden, und zwar so schnell wie möglich. Das liegt in seinen Genen, und wenn er könnte, wie er wollte, würde er das sofort in die Tat umsetzen. Die Folge wäre ein Stamm, der aus Holz mit großen Zellen aufgebaut wäre. Große Zellen enthalten jedoch viel Luft und sind damit bruchanfälliger sowie eine ideale Brutstätte für holzfressende Pilze, da diese Luft zum Atmen benötigen. Ein Baum, der schnell wächst, wird zwar rasch groß, aber durch das minderwertige Holz nicht besonders alt. Wenn Sie ein Exemplar sehen, das durch einen Sturm gebrochen wurde, so handelt es sich wahrscheinlich um solch einen ungestüm gewachsenen Kandidaten. Damit kann er sich auch nicht mehr fortpflanzen, was ein klarer genetischer Nachteil ist.
Zum schnellen Wachstum benötigt eine Buche Licht und hier greifen nun die alten Bäume ein. Sie reduzieren mit ihrem Laub die Sonneneinstrahlung so stark, dass nur noch drei Prozent bis zum Boden zu ihren Füßen gelangen. Die kleinen Buchenschmetterlinge werden so vom ersten Augenblick an stark im Wachstum gebremst und gezwungen, langsam Holz zu bilden. Die Zellen der winzigen Stämmchen bleiben klein und dicht, sie sind dadurch flexibel und unattraktiv für Pilze. So aufgewachsene Bäume können sehr alt werden, da sie in Stürmen gut hin und her federn können, ohne zu brechen. Stammwunden führen seltener zu einer Holzfäule und damit zu einer lebensbedrohlichen Instabilität.
Diese Erziehung durch die Eltern ist allerdings eine langwierige Sache. So geht es für den Nachwuchs pro Jahr manchmal nicht mehr als einen Zentimeter in die Höhe, eine echte Zumutung. Denn die Buchenkinder hungern sich dabei fast zu Tode, da sie mit ihren spärlichen Blättern im Dämmerlicht kaum Zucker produzieren können. Die Rettung naht im Untergrund in Form von zarten Wurzeln der älteren Bäume, die mit denen des Nach wuchses verwachsen und ihn mit lebensnotwendigen Nährstoffen versorgen. So lässt es sich lange aushalten. Zeit spielt dabei keine Rolle und die Wartezeit kann durchaus einmal 200 Jahre oder länger betragen. Weiter nach oben darf ein Buchenkind nämlich erst dann, wenn der Elternbaum das Zeitliche gesegnet hat. Durch seinen Tod dringt ungebremst Licht in die tieferen Etagen und das ist das Startsignal für den Nachwuchs, nun zügig den Luftraum zu erobern. Allerdings nur für diejenigen, die bis dahin gut gewachsen sind. Der Stamm sollte schnurgerade sein, und zwar nicht, weil das schöner ist oder man daraus besser Bretter sägen kann, sondern weil ein gerader Stamm deutlich stabiler ist. In ihm verlaufen die Holzfasern lotrecht, er kann bei einem Sturm den Winddruck also gleichmäßig aufnehmen und die Kräfte auf den ganzen Körper verteilen. Ein krummer, schiefer Baum hingegen muss schon im Normalfall heftig kämpfen, um nicht abzubrechen. Auf die Wurzeln wirken bei einem großen, 40 Meter hohen Exemplar gewaltige Hebelkräfte. Die riesige, tonnenschwere Krone droht, ihn umzureißen, und daher lagert er im Eiltempo Holz an den Krümmungen des Stamms an, um diesen zu verstärken. Für ruhige Tage mag das reichen, bei schweren Stürmen wird es aber eines Tages zu viel. Ein reißender Krach und dieser Baum liegt abgebrochen am Boden.
Damit das erst gar nicht passiert, wachsen Buchen in Gruppen auf. Dabei schiebt sich ihr Gipfeltrieb Jahr für Jahr zentimeterweise in die Höhe. Meint nun einer der Knirpse, er müsse sich schief und krumm entwickeln, folgt die Strafe sofort. Zur Seite zu wachsen bedeutet ja nichts anderes, als weniger in die Höhe zu kommen. Also überholen die normal nach oben strebenden Nachbarn diesen Baum und lassen ihn in der Dunkelheit zurück. Die drei Prozent des
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