Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
Vom Netzwerk:
Sonnenlichts, die durch das Blätterdach der alten Bäume kommen, erreichen den Abweichler nicht mehr, sodass er wenige Jahre später stirbt und wieder zu Humus wird.
    Wie unendlich langsam diese Jugendphase voranschreitet, entdeckte ich vor wenigen Jahren per Zufall in einem 200-jährigen Buchenaltbestand. Unter einer mächtigen Buche stand ihr Nachwuchs, eine etwa 80-jährige Buche. Sie war nur 1,50 Meter hoch, ihr Stämmchen lediglich fingerdick. Bis dieser Winzling ein erwachsener Baum werden darf, werden wohl insgesamt 300 Jahre vergehen. Vielleicht fragen Sie sich, wie ich das Alter der »Jungbuche« erfahren habe. Schließlich wollte ich dieses Bäumchen nicht absägen, zumal die Jahresringe bei solch langsam gewachsenem Holz mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen gewesen wären. Es sind die Ästchen, die das Alter verraten. Buchen bilden zum Sommerende kleine Falten an den Enden der Triebe, die aussehen wie ein geriffelter Knoten. Zählt man diese Knoten auf einem Zweig, so lässt sich zuverlässig eine Jahreszahl ermitteln. Bei den jungen Buchen ist jeder Zweig mit Knötchen übersät und kündet von der harten Schule, durch die sie gerade gehen.
    Das Gedränge im Buchenkindergarten bringt einen weiteren erzieherischen Effekt mit sich, nämlich das Vermeiden zu großer Sei tenäste. Bäume sollen zielstrebig nach oben wachsen und ihre Zeit nicht mit der Bildung dicker Nebenäste vertun. Nun lassen sich diese Äste nicht ganz vermeiden, da schließlich irgendwo auch Blätter wachsen müssen. Würden sich diese nur am Leittrieb, also an der Spitze, bilden, so könnte der Nachwuchs kaum Licht einfangen. Je breiter die winzigen Kronen sind, desto mehr Sonnenenergie lässt sich sammeln. Im weiteren Verlauf ihres Lebens müssen die Buchen diese Verzweigungen wieder loswerden, denn wenn der Gipfeltrieb weiterwächst, wird es unten am Stamm zu dunkel für Blätter. In der Folge verdorren die Zweige und über dieses tote Gewebe versuchen Pilze, in das Holz und damit in den Baum zu gelangen. Nun beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Um die Eindringlinge abzuwehren, schottet die Buche den toten Zweig vom Rest ab. Er bricht mit der Zeit herunter und der Stumpf wird dann mit lebendem Gewebe überwachsen. So eine Reparatur zieht sich je nach Durchmesser über mehrere Jahre hin. Statistisch gesehen schafft es der Baum nur dann, den Stamm wieder abzudichten, bevor der Pilz ins Innere vorgedrungen ist, wenn der tote Ast nicht dicker als fünf Zentimeter ist. Größere Wunden kann er nicht schnell genug verschließen und die Holzzerstörer wandern durch diesen Einlass bis ins Mark. Ein so befallenes Exemplar kann zwar noch einige Jahrzehnte leben, wird aber nicht mehr so alt wie seine Kameraden.
    Stehen die Buchenkinder schön dicht beieinander und wachsen jahrelang zusammen der Sonne entgegen, verdunkeln sie ihre Flanken gegenseitig. Dadurch sterben seitliche Äste ab, bevor sie zu mächtig werden. Das ist auch der Grund, warum dicke Ur waldbäume so schön glatte Stämme haben. Erst wenn sie eines Tages im oberen Stockwerk angekommen sind, können sie gefahrlos eine große, verzweigte Krone bilden.
    Aber zurück zur Jugend. Die Abweichler sind aussortiert, von den Tausenden Keimlingen sind nur eine Handvoll halbwüchsiger Buchen übrig, die wohlerzogen und gut gewachsen unter dem Elternbaum warten. Weiter geht es, wenn dieser stirbt. Jetzt wird es ein letztes Mal richtig gefährlich. Ist die alte Buche tot, so brechen innerhalb weniger Monate die dicken Äste herunter, manchmal sogar der komplette Baum. Und wo er aufschlägt, gibt es Bruch. Mit abgeknickter Krone kann ein Thronfolger seine Ambitionen vergessen und muss einem der verbliebenden Konkurrenten weichen.
    Wer diesen letzten Härtetest unbeschadet übersteht, kann nun endlich in die obere Schicht aufrücken und damit erwachsen werden. Die Chance, es so weit zu schaffen, beträgt für jeden Buchenembryo, der in einer Buchecker im Herbst zu Boden fällt, durchschnittlich 1:1,7 Millionen. Hungrige Tiere, die strenge Erziehung oder Unglücksfälle dezimieren die Baumjugend so stark, dass in 400 Jahren nur ein Baum ein komplettes Leben durchläuft. Aber das reicht zur Arterhaltung völlig aus.
    Den schwierigsten Lebensabschnitt hat die Buche jetzt hinter sich und nun kann sie vor allem eines: Wachsen. Bei einer Höhe von maximal 50 Metern ist nach oben hin Schluss, aber die Krone breitet sich stetig nach den Seiten aus und der Stamm wird ebenfalls immer mächtiger. Aber

Weitere Kostenlose Bücher