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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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eine Buche wächst nicht nur so allein vor sich hin, sie steht über die Wurzeln auch mit ihren Artgenossen in Kontakt. Wie über ein Nachrichtennetzwerk werden hier Informationen über Insektenattacken ausgetauscht oder es wird auch Zuckerlösung weitergereicht. Zwar ist diese »Fütterung« unter großen Bäumen nicht nötig, doch im Krankheitsfall kann die Hilfe der Nachbarn lebensrettend sein. Schwächelt eine Buche, so pumpen die Kollegen quasi Flüssignahrung hinüber. Wie weit diese Hilfe geht, habe ich mit Studenten in meinem Revier entdeckt. Dort fanden wir auf dem Boden einen bemoosten Stein, etwa 5 mal 20 Zentimeter groß. Bei genauem Hinsehen entpuppte sich dieser als Buchenholz, das noch fest im Erdreich verankert war. Als wir die Rinde untersuchten, stellte sich heraus, dass es noch lebte. Es war der Rest eines einst meterdicken Baums, den ein Köhler vor vielleicht 400 Jahren gefällt hat und dessen Stumpf größtenteils schon zu Humus zerfallen war. Nur der winzige, steinartige Rest hatte überlebt, und das ohne ein einziges Blättchen. Möglich war das nur, weil die umliegenden Bäume nicht nachgelassen hatten, selbst diese Überreste mit Nährstoffen zu versorgen – bis heute. Und wer weiß, vielleicht treibt irgendwann aus diesem knorrigen Holz auch wieder ein junger Trieb aus, der sich erneut zu einem Urwaldriesen entwickelt.
    Aus diesen Beobachtungen lernte ich noch etwas. Buchen scheinen sich untereinander nicht als Konkurrenten zu betrachten. Welchen Sinn sollte es haben, Rivalen zu päppeln, die anschließend den eigenen Platz streitig machen und Wasser sowie Nährstoffe verknappen? Gibt der Baum seinem Nachbarn etwas von seinem Zuckervorrat ab, so steht ihm selbst weniger Energie zum Wachsen oder zur Abwehr von Krankheiten zur Verfügung. Die selbstlose Gabe nützt ihm zunächst selber nichts. Doch eine Buche ist im Kollektiv besonders widerstandsfähig gegen Krankheiten und Klimaschwankungen. Daher ist es langfristig sinnvoll, den eigenen Nachbarn in Notzeiten zu helfen und so die Gemeinschaft zu erhalten.
    Ich sehe was, was du nicht siehst
    Bäume, ganz speziell Buchen, können mehr, als man ihnen ge meinhin zutraut. Da wir Menschen mitfühlende Wesen sind, verstehen wir andere Lebensformen besser, wenn wir sie mit unseren Fähigkeiten vergleichen. Und weil wir »Augentiere« sind, das Sehen demnach der wichtigste Sinn ist, lassen Sie uns mit der Optik beginnen.
    Buchen haben keine Augen, zumindest nicht so wie wir. Sie »sehen« das Licht trotzdem, und zwar gleichzeitig mit Hunderttausenden Organen, den Blättern. Da die Sonnenstrahlen quasi ihre »Leibspeise« sind, mag sich das möglicherweise so anfühlen, als würden wir uns an einem üppigen Buffet bedienen. Nun könnte man einwenden, dass Sehen und Fotosynthese doch etwas völlig Verschiedenes seien. In Ordnung, betrachten wir ein anderes Phänomen. Mit der ersten Wärmeperiode im Frühling starten Blumen und Gräser auf ein Neues. Überall treiben grüne Spitzen aus dem Boden und auch die Buchen könnten nun wieder loslegen. Wenn da nur nicht die Spätfröste wären. Fällt das Thermometer im April noch einmal unter minus fünf Grad Celsius, würden die jungen Blätter und Triebe erfrieren. Um das zu verhindern, warten die Bäume. Doch woher wissen sie, welcher Monat im Kalender angezeigt wird? Es ist die zunehmende Tageslänge, die sie wahrnehmen bzw. »sehen« können. In Kombination mit den steigenden Temperaturen passen sie so den richtigen Moment zum Laubaustrieb ab. Und dieser Zeitpunkt ist Anfang Mai gekommen. Damit ist klar, dass Bäume nicht nur mit den Blättern »sehen« können, da diese jetzt erst noch gebildet werden müssen. Die dünne Rinde, speziell an den Knospen, lässt offensichtlich genug Helligkeit ins Innere, damit die Buchen Bescheid wissen.
    Moment. Bisher haben wir über den Sehsinn gesprochen und nun ist unversehens noch ein weiterer Aspekt hinzugekommen, das Fühlen. Warm oder kalt, da muss die Buche eindeutig etwas spüren. Das kann sie auch, wie sie jedes Jahr aufs Neue beweist, und noch viel mehr. Selbst Schmerzen registriert sie. Das lässt sich zwar nicht direkt beweisen, aber die indirekten Hinweise sind deutlich genug und auch sehr spannend. Denn sie teilt ihre Gefühle anderen mit.
    Schon vor Jahrzehnten beobachteten Wissenschaftler in der afrikanischen Savanne ein merkwürdiges Verhalten bei Gazellen. Diese knabberten am grünen Laub von Schirmakazien, allerdings nicht lange. Schon nach wenigen

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