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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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Minuten wanderten sie zu anderen Exemplaren, die mindestens 50 bis 100 Meter weit entfernt standen. Eine Untersuchung ergab, dass die unmittelbaren Nach barn der angefressenen Akazien giftige Abwehrstoffe in die Blätter transportiert hatten, was die Tiere offensichtlich wussten. Doch wie konnten die anderen Bäume die bevorstehende Fressattacke ahnen? Es war der Wind, der ihnen einen chemischen Warnruf zutrug, eine Duftbotschaft der angefressenen Exemplare.
    Mittlerweile weiß man, dass viele Baumarten heftig miteinander kommunizieren. Das gilt möglicherweise sogar für alle Pflanzen. Zwar sind dies »nur« Duftbotschaften, aber dieses Medium ist nicht schlechter als unsere gesprochene und über Schallwellen transportierte Sprache.
    Bei unseren heimischen Bäumen sind es nicht Gazellen, sondern Insekten, die Duftwarnungen hervorrufen. Innerhalb von Minuten lagern die von ihren Artgenossen alarmierten Buchen oder Eichen spezielle Stoffe in die Rinde ein, um die geflügelte Armada gebührend zu empfangen. Professor Dr. Wilhelm Boland vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena bescheinigt Pflanzen eine ähnlich komplexe Abwehr wie Tieren. 6
    Oft werde ich gefragt, ob das Eindringen von Insekten in die Baumrinde tatsächlich Schmerzen hervorruft, ob diese Annahme nicht zu gewagt sei. Genau weiß ich das auch nicht, denn ich bin ja kein Baum, aber warum sollte das anders sein als bei Tieren? Schmerz ist ein dringendes Signal des Körpers, sofort zu reagieren, um bleibende Schäden oder gar den Tod zu verhindern. Kein Wesen auf diesem Planeten kann auf derartige Mechanismen verzichten.
    Die heutige Wissenschaft gesteht anderen Arten jedoch immer nur so viel zu, wie aufgrund der Forschung als Mindestmaß angenommen werden muss. Ein Beispiel: Der Neandertaler galt lange als plumpe Variante des modernen Menschen. Doch war er wirklich so grobschlächtig, gab er tatsächlich nur unartikulierte Laute von sich? In Israel wurde ein Zungenbein dieser Urmenschen ausgegraben, ein Knöchelchen, welches zum Sprechen unabdingbar ist. Damit wäre der Beweis erbracht, dass Neandertaler die Fähigkeit zum Sprechen hatten. Doch so schnell lassen sich Wissenschaftler nicht überzeugen, ihm nun auch noch eine Sprache zuzugestehen. Das Zungenbein ließ sich nicht mehr leugnen, doch richtig sprechen? Dafür fehlen bisher die Beweise und deshalb bleiben die kräftigen Gesellen in unserer Vorstellung geringer entwickelt als wir. Mit derselben Argumentation könnte man sie auch als blind beschreiben. In ihren Schädeln sind Augenhöhlen, also hatten sie Augen. Doch konnten sie damit wirklich sehen? Ein Beweis steht auch hierfür aus, aber dennoch zweifelt kein Wissenschaftler an dieser Fähigkeit. Warum sind Forscher nur so vorsichtig mit manchen Thesen? Liegt es vielleicht daran, dass bestimmte Fähigkeiten unser Selbstwertgefühl ankratzen? Mitgeschöpfe, die sich austauschen, die Schmerz und Freude empfinden, die sich zärtlich um ihren Nachwuchs kümmern, sich artikulieren können und ihre Umwelt in all ihren Facetten wahrnehmen, sind, sobald wir sie als Nutztiere verwenden möchten, einfach nur unbequem. Wenn wir akzeptieren würden, dass Bäume e benfalls Schmerzen empfinden können, müssten wir unseren Umgang mit ihnen überdenken. Hecken, Bonsais, Holzplantagen und veredelte Obstbäume, all dies müsste eigentlich als Baumquälerei eingestuft werden. Da ist es viel bequemer, die Riesen unter den Pflanzen als zwar imposante, aber gefühllose »Bioroboter« anzusehen. Hätten Bäume Knopfaugen und eine Stupsnase, so würde ein öffentlicher Sturm der Entrüstung ob der Zustände in unseren Wäldern ausbrechen. So aber leiden Buchen, Eichen oder Fichten stumm in der Kulisse, die wir als Natur bezeichnen.

Kultivierte Bäume
    Lassen Sie mich zunächst einen Begriff klären – Natur. Er wird häufig verwendet, aber leider oft sehr unterschiedlich. Natur ist auch in meinem Verständnis das, was vom Menschen nicht geschaffen wurde, also das Gegenteil von Kultur. Im Zusammenhang mit Wald bezeichnet Natur also ein von menschlichen Tätigkeiten unbeeinflusstes Ökosystem. Wälder, in denen in den letzten Jahren oder Jahrhunderten einmal Bäume gefällt wurden, zählen demnach nicht zur Natur in diesem Sinn, und das aus gutem Grund. Denn die zuvor geschilderten langsamen Prozesse, die endlose Jugendphase der Schösslinge unter ihren Elternbäu men, finden dann nicht mehr statt. Wo ein Stamm abgesägt wurde, ist nun eine Lücke im

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