Der Wald - ein Nachruf
Haselnusszweige, schnitten sie gerade ab und zerkauten ein Ende, bis es faserig wurde. Das ergab eine Art Bürstchen, mit dem sich die Zähne prima abschrubben ließen. Gegen den faden Geschmack im Mund half das aber nicht. Als allen klar wurde, dass das Frühstück ausfiel, machten wir uns auf, Wurzeln und Kräuter für das Mittagessen zu sammeln.
Auf einer Waldwiese, die vor lauter Löwenzahnblüten mehr gelb als grün war, kippte plötzlich die Stimmung. Claudia übergab sich, und als Stefan das sah, musste auch er brechen. Thorsten, Heinz und Dieter klagten über Kopfschmerzen. Alle ließen sich ins Gras fallen und zeigten kein Interesse, noch ein paar essbare Pflanzen und Insekten gezeigt zu bekommen.
Ich fühlte mich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Was sollte ich nun machen? Gegen 14:00 Uhr war das Kamerateam angekündigt und offensichtlich löste sich gerade das Survivalwochenende auf, hatten die Teilnehmer einfach keine Lust mehr.
Völlig ausgelaugt ging die Truppe zum Lager zurück. Ich versuchte, zumindest den Kopfschmerzpatienten mit einem Tee aus Mädesüß zu helfen. Diese krautige Pflanze wuchs am kleinen Bach und enthielt Acetylsalicylsäure, also einen Bestandteil von Aspirin. Tatsächlich besserten sich die Beschwerden und damit auch die Laune. Pünktlich mit dem Eintreffen der Fernsehleute war die Stimmung wieder da, wo ich sie haben wollte. Vor der Kamera blühten die Teilnehmer regelrecht auf und zeigten, was sie gelernt hatten. Nun konnte ich auch endlich meine restlichen Programmpunkte einbauen. Heinz kaute genüsslich einen Kaugummi aus Fichtenharz und hielt das Ergebnis lächelnd in die Linse. Dieter und Claudia rösteten und zerrieben Löwenzahn wurzeln, um eine Art Kaffee daraus zu brauen. Auch Thorsten wollte seinen Beitrag leisten und schnappte sich das Mehl, das ich eigentlich nur zum Panieren unserer Funde mitgenommen hatte. Er knetete einen Teig und backte in der Pfanne große schwarze Fladen. Einzig Stefan verkündete vor laufender Kamera, er würde nun abbrechen. Schließlich vertrage nicht jeder so eine Tortur. Sprach ’ s und stapfte aus dem Lager Richtung Dorf.
Das Kamerateam war begeistert, hatte die Geschichte doch alles, was für einen knackigen Bericht erforderlich war. Und später bei der Ausstrahlung wurden mir meine Sorgen genommen: Der Beitrag war insgesamt gut und als Werbung in Ordnung.
In den kommenden Jahren drehten alle großen TV-Sender über dieses skurrile Freizeitangebot. Auch Spiegel und FAZ berichteten, sodass sich die Anmeldungen häuften. Allein im ersten Jahr führte ich zwölf Survivaltrainings durch, was eindeutig zu viel war, und zwar für mich. Denn jetzt wurde mir klar, wie sehr die Gesellschaft schon durch das Fernsehen geprägt war. Viele sind es gewöhnt, abends mit der Fernbedienung in der Hand durch die Welt zu zappen und dabei genüsslich Chips zu essen. Diese Fernbedienung nahm ich den Teilnehmern gewissermaßen aus der Hand. Sie erwarteten trotzdem auch im Wald ein Programm, das ohne ihre Beteiligung vor ihren Augen ablief. Die häufigste Frage lautete: »Und was machen wir jetzt?« War kein Wasser im Lager, so ging kaum jemand ohne Aufforderung zum Bach. Drohte das Feuer zu erlöschen, so musste ich erst zum Holzhacken mahnen. Eine Gruppe hat das besonders übertrieben und das ausgerechnet im Winter. Durch die früh hereinbrechende Dunkelheit hätte doppelt so schnell gearbeitet werden müssen, um das Feuerholz für die lange Nacht herbeizuschaffen. Doch trotz aller Warnungen blieben die Teilnehmer lieber um das Feuer herum stehen und erzählten sich Geschichten aus ihrem Leben. Die Folge war, dass die Flammen weit vor Mitternacht erloschen. Im Schneeregen begannen die Ersten rasch zu frieren. Ich hingegen lag in einem kuschelwarmen Schlafsack, der für Temperaturen bis minus 20 Grad Celsius ausgelegt war. Am kommenden Morgen brach dann auch ein Teilnehmer wegen der Kälte ab.
Meine wichtigste Lektion aus diesen Trainings war aber eine andere: Nur mit vollem Magen ist man bereit, Experimente in Bezug auf die Nahrung einzugehen. Viele Menschen glauben, dass sie in Krisensituationen auch Würmer essen könnten, um nicht zu verhungern. Ob das wirklich klappt, können Sie ganz einfach testen, indem Sie das heute schon einmal probieren.
Bei den Survivalwochenenden war es regelmäßig so, dass nur freitags, also am ersten Nachmittag, Bockkäferlarven und Asseln verspeist wurden. Am zweiten Tag, an dem jede Gruppe einen dra matischen
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