Der Wald - ein Nachruf
Einbruch erlebte, wollten alle nur noch von Zuhause träumen. Egal was ich anbot, die Gäste zog es zurück ins Lager, wo sich die müden Abenteurer sofort auf die Reisigmatratzen legten, um zu dösen. Mit sinkender Stimmung war die Lust aufs Exotische verflogen und der bohrende Hunger wurde von der Erschöpfung überdeckt. Zudem lockte das absehbare Ende: Nur noch einmal schlafen, dann ging es zurück nach Hause zum gefüllten Kühlschrank. Und genau diese Hoffnung auf ein besseres Morgen lässt die Menschen im Ernstfall lethargisch werden und schließlich verhungern.
Aber der Wald lehrte die Teilnehmer und mich noch weitere Dinge, nämlich die Geschmacklosigkeit unserer alltäglichen Nahrung. Das heutige Essen ist sehr vielfältig geworden. Schauen Sie beim nächsten Gang durch den Supermarkt einmal, wie viele Sorten es von einem Lebensmittel, beispielsweise Brot, gibt. Egal worauf Sie Appetit haben, ob Lachs oder Schweinefilet, ob Erdbeeren oder Bananen, ob Chips oder Schokolade, alles ist bei uns immer und überall verfügbar. Diese Vielfalt der Auswahlmöglichkeiten suggeriert eine Vielfalt des Geschmacks – doch erstaunlicherweise ist genau das Gegenteil der Fall. Im Wald mit seinen zähen, sauren oder bitteren Gaumenerlebnissen, die von den meisten einfach als ungenießbar angesehen werden, wird klar, dass unser Essen eine merkwürdige Art von Evolution durchlaufen hat. Verkauft wird nur, was schmeckt. Und da das Unterbewusstsein nach Fett, Salz und Zucker giert, sind diese Komponenten bestimmende Elemente aller Lebensmittel geworden. Was soll die Industrie auch machen: Sie will schließlich verkaufen. Saure Äpfel und bitteres Gemüse würden von den Kunden gnadenlos liegen gelassen, Chips ohne Geschmacksverstärker oder ungezuckerte, fettarme Schokolade bis zum Ablaufdatum unberührt bleiben.
Im Wald ist es für unsere verwöhnten Gaumen schon ein Highlight, wenn etwas einfach nur neutral schmeckt. Süßes oder Fettiges ist kaum zu finden und so ist es kein Wunder, dass die Natur unser Unterbewusstsein auf die Jagd genau danach programmiert hat. Im Alltag ist es leider so, dass wir fast nichts anderes mehr kaufen können.
Eine weitere Erkenntnis war die, dass Mitteleuropa doch sehr dicht bevölkert ist. Wenn man sich nur von den natürlichen Dingen des Waldes ernähren möchte, dann ist eine Gruppe von sechs Personen schon fast zu groß. Auf kilometerlangen Märschen ist das Gebiet um das Lager rasch abgegrast, sind die meisten Käferlarven schnell aufgespürt und das wenige Wildgemüse im Nu geerntet. Danach müsste die Gruppe weiterziehen, um nicht zu verhungern. Je Einwohner muss vor der Einführung von Ackerbau und Viehzucht eine Fläche von mehreren Quadratkilometern vorhanden gewesen sein oder umgekehrt ausgedrückt: Mitteleuropa würde wohl kaum mehr als 100 000 Menschen ernährt haben. Die derzeitige Anzahl von 229 Einwohnern pro Quadrat kilometer Landfläche in Deutschland bzw. 100 in Österreich und 184 in der Schweiz ist also nur deshalb möglich 48 , weil fossile Rohstoffe indirekt in Nahrungsmittel umgewandelt werden. Kunstdünger, Pestizide und der Einsatz von Maschinen mit Diesel als Treibstoff sorgen für gefüllte Vorratsschränke und wiegen uns in dem Irrglauben, wir könnten uns nach wie vor von den ohne unser Zutun vorhandenen Gaben der Natur ernähren.
Neben all diesen Erkenntnissen war es für mich immer wieder spannend, die Veränderungen der Menschen während der Tage im Wald zu erleben. Denn hier wird jeder auf sich selbst zurückgeworfen. In der Natur zählt weder die Bildung, noch die Herkunft, sondern nur der Umgang mit dem Ich und der Gruppe in einer Ausnahmesituation. Da war zum Beispiel einmal ein Vater-Sohn-Gespann. Der Junge war erst 14, was mir etwas Kopfschmerzen bereitete. Die Untergrenze war bisher immer der 15. Geburtstag gewesen, und das aus gutem Grund. Denn Kinder können mit Hunger sehr viel schlechter umgehen als Erwachsene. Aber der Vater, Andreas, hatte versichert, dass sein Junior ein wahrer Natur bursche sei und er selbst aufpassen werde, dass ihm nichts passieren würde. Daher akzeptierte ich die Buchung. Im Verlauf der Tour entpuppte sich dann Andreas schnell als Problem. Während der Junge Käferlarven verspeiste, dass es nur so eine Freude war, sprach der Vater schon zwei Stunden nach Beginn nur noch von seinen Lieblingsspeisen. Ein ganz schlechtes Zeichen. Denn wenn die Gedanken nur noch ums Essen kreisen, gar um wahre Gaumenfreuden, kann so ein
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