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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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Waldcamp schnell zur Hölle werden. Am zweiten Tag murmelte Andreas ab und zu etwas von »nach Hause« oder »kein Bock mehr«. Wollte er aufgeben? Letztlich hielt ihn nur sein Sohn davon ab, der sich prächtig amüsierte.
    Ein anderer Fall war Josef. Er war sehr sympathisch, allerdings etwas lustlos. Vieles hielt er für überflüssig, auch die Nachtwachen am Lagerfeuer. Ich hatte diesen Dienst eingerichtet, damit wir immer Beleuchtung im Camp hatten, und sei es nur für den Toilettengang. Um alle entsprechend zu motivieren, erzählte ich von wilden Tieren, die ohne Feuer nachts über die Schlafsäcke stolpern könnten. Josef war das herzlich egal, er wollte einfach nur durchschlafen. Mir sollte es recht sein, denn eine echte Gefahr sah auch ich nicht.
    Gegen 2:00 Uhr wurden wir plötzlich alle wach. Ein Quieken und Grunzen, nur wenige Schritte neben Josefs Reisiglager. So schnell habe ich noch nie jemanden aus dem Schlafsack schlüpfen sehen. Josef warf eine Handvoll Holz auf die Glutreste der Feuer stelle und fing voller Panik zu blasen an. Einige Minuten später erhellten Flammen die Szenerie und alle kamen zusammen. Ich konnte sie beruhigen: Die Schweine waren längst weg. Sie hatten sich genauso erschreckt wie wir. Am folgenden Abend gab es keine Diskussion mehr zum Thema Feuerwache, wir alle hatten unsere Lektion gelernt.
    Von allen Survivalkursen gab es nur einen mit einer wirklich unangenehmen Begegnung mit Tieren, und die betraf ausgerechnet mich. Eines Morgens erwachte ich in meinem Schlafsack und hörte ein kratzendes Geräusch, das aus meinem Ohr kam. Da musste sich wohl eine Mücke verflogen haben. Ich bat einen Teilnehmer, doch einmal hineinzuschauen und das lästige Vieh zu entfernen. Doch er sah nichts, das Insekt schien sehr tief darin festzustecken. Den ganzen Tag über hörte ich immer wieder dieses Geräusch, und in der kommenden Nacht konnte ich kaum ein Auge zumachen. Wieder zu Hause angekommen, suchte ich einen Facharzt auf. Der konstatierte nach einem kurzen Blick in den Gehörgang: »Da sitzt eine Zecke auf Ihrem Trommelfell!« Er nahm eine Pinzette und zog das festgebissene Tier heraus. Wie das schmerzte! Naturerlebnisse sind eben nicht immer gesund.
    Der Wald ist in der Lage, das Beste aus den Menschen herauszukehren. Diese Erkenntnis verdanke ich einigen Teenagern aus dem Ruhrgebiet, die ein sogenanntes Berufsvorbereitungsjahr absol vierten. Das ist eine einjährige Schulausbildung für Schulabbrecher und Jugendliche, die keinen Schulabschluss bzw. Ausbildungsvertrag haben. Nach Aussagen der begleitenden Lehrer waren alle Teilnehmer Härtefälle, die nur durch strenge Regeln im Zaum zu halten waren. Sie hatten sich für ihre Schüler eine Art Bootcamp vorgestellt, in dem sie das Leben abseits von Handy und Alkohol kennenlernen sollten. Untergebracht waren sie in einer alten Hütte, in der sie auch mit normalem Essen versorgt wurden.
    Als ich mit den Jungen und Mädchen durch den Wald streifte, dachte ich mehrfach: »Warum hast du dir das überhaupt angetan?« Denn die Truppe schlurfte lustlos hinter mir her, spielte trotz des Verbots der Lehrer ununterbrochen mit ihren Handys und beschimpfte sich gegenseitig wüst. Dass sie auf mich keinen Bock hatten, verstand sich von selbst. Das übliche Programm mit Insektenlarven und Kräutern konnte ich mir ihrer Ansicht nach sparen, so einen Fraß würden sie nicht anrühren. Warum auch? In der Hütte gab es ja Brot und Wurst – ein Fehler, wie ich zuerst dachte. Innerhalb von drei Tagen änderte sich dann unerklärlicherweise die Stimmung. Während die erwachsenen Begleiter mir von anstehenden Schulverweisen erzählten und über einige Vorfälle daheim berichteten, blühten die Jugendlichen auf. Mehr und mehr ließen sie sich auf Wald und Natur ein. Am letzten Tag wuchsen sie über sich hinaus. Zwei Rehe, die ich komplett mit Fell anliefern ließ, wurden von ihnen unter Anleitung abgezogen und für das Abendessen fertig gemacht. Auch die Survivalsnacks im Wald verschmähten die Teenies nicht mehr. Zum Schluss wurden sogar lebende Spinnen um die Wette verspeist.
    Am Lagerfeuer unterhielten wir uns noch lange und mir wurde klar, dass es sich um intelligente junge Menschen handelte, die leider in einem ungünstigen sozialen Umfeld aufgewachsen waren. Wochen später erhielt ich von jedem einzelnen Schüler einen Dankesbrief und bei dem Gedanken, dass sie nun wieder in ihrem normalen, eher trostlosen Alltag versinken würden, wurde es mir schwer ums

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