Der Wald ist schweigen
plötzlich intensiv nach ihren nächtlichen Gesprächen in der Küche, nach Martins Pastasoßen mit Chili, Knoblauch und Sardinen, dem Moment nach dem Essen, wenn sich Rotwein, Knoblauch, Tabak und der Espresso auf ihrer Zunge vermischen und sie in seinen Augen lesen kann, dass sie sich endlich entspannt. Sie sehnt sich nach seinen Händen. Ja, auch nach seinen Händen.
Sie öffnet die Küchentür und schaltet das Licht ein. Trotz der ungespülten Teller und Töpfe, der zerlesenen Zeitung, der Kaffeekanne und der Milchtüte, die sie offenbar vergessen hat, in den Kühlschrank zu räumen, sieht sie den Brief augenblicklich. Es ist ein einfacher weißer Umschlag. »Judith« steht darauf, in Druckbuchstaben. Jeder ihrer Schritte dröhnt in ihren Ohren. Sie nimmt den Brief in die Hand, er ist schwer, zwei Schlüssel sind darin, mit einem Edelstahl-Anhänger. »J«. Ihre Schlüssel.
» Liebe Judith « , hat Martin geschrieben. » Bitte entschuldige, dass ich dir deine Schlüssel nicht persönlich wiedergebe. Du wolltest mich anrufen, hattest du gesagt. Jetzt ist wieder eine Woche vergangen und ich will nicht länger warten. Du kennst mich, ich bin für klare Verhältnisse.
Ich bin nicht böse auf dich, bitte glaub mir das. Aber ich sehe, dass du nicht aus deiner Haut heraus kannst und ich nicht aus meiner, auch wenn ich gehofft habe, dass wir das schaffen würden. Wahrscheinlich sollten wir uns das nicht vorwerfen. Wir haben es probiert, es hat nicht funktioniert. Funkt. Und wahrscheinlich hast du Recht, zwischen uns ist wirklich alles gesagt. Ich will also meine Argumente hier nicht wiederholen, du kennst sie genauso gut wie ich.
Hier sind deine Wohnungsschlüssel. Du kannst mir meine einfach mit der Post schicken. Bitte pass auf dich auf. Ich drücke dir die Daumen für alles. Und vor allen Dingen wünsche ich dir, dass du glücklich wirst. Das tue ich wirklich. Martin «
Später vermag Judith nicht mehr zu sagen, woher diese unbändige, rotglühende Wut kommt, die sie durch die nächsten Stunden peitscht. Wie im Rausch bewegt sie sich durch die Zimmer und Nirvana schreit dazu. Als sie wieder zu sich kommt, ist ihre Wohnung bis in den hintersten Winkel aufgeräumt und blankgeputzt. Welche Spuren auch immer Martin hinterlassen hat, sie hat sie vernichtet. Sie hat die Bettwäsche abgezogen und mit wütenden Fausthieben in die Waschmaschine gestopft. Sie hat die Seife, die sie gemeinsam benutzt haben, weggeschmissen und sein Lieblingshandtuch ebenso. Um seine Zahnbürste, seinen Wecker, die Rasiersachen, Deo, Aftershave und seine Wäsche zum Wechseln musste sie sich nicht kümmern, die hatte er schon selbst entfernt. Aber die CDs, die er ihr geschenkt hat, konnte sie zerbrechen. Das Sommerkleid, das sie gekauft hatte, weil es ihm so gut an ihr gefiel, in einen Müllbeutel treten, zusammen mit den letzten Seiten seiner Zeitungen, seinen teuren Küchenmessern, der Gewürzmühle und der Parmesanreibe aus Edelstahl. Sie lässt sich keine Zeit nachzudenken, bringt jede Mülltüte, die sie gefüllt hat, sofort in den Container unten im Hof.
Bleiben noch Martins Briefe und diese unendlich sehnsüchtige, unendlich aussichtslose Liebesgeschichte, die er ihr zum Valentinstag geschenkt hat, Christoph Meckels »Licht«. Judith öffnet eine weitere Flasche Bier, ist es die dritte oder vierte, seit sie nach Hause gekommen ist? Sie kann es nicht sagen, und die Zigaretten, die ihre Lungen zerfressen, kann sie ohnehin nicht mehr zählen. Systematisch, eine weitere Selbstgedrehte im Mundwinkel, reißt sie Buch und Briefe in kleine Fetzen und lässt sie in die blank gewienerte Edelstahlspüle fallen. Ohne innezuhalten füllt sie zwei Töpfe mit Wasser. Ihre Hände sind ganz ruhig, als sie aus Martins Abschiedsbrief eine Lunte dreht, sie anzündet und damit die papierenen Überbleibsel ihrer Beziehung in Brand setzt. Es dauert lange, bis auch die letzten Fetzen zu feiner schwarzer Asche geworden sind, die sich im Wasser auflösen und im Abfluss herunterspülen lässt.
Als sie die Spüle wieder blank gescheuert hat, fühlt Judith, was sie lange vermisst hat: Frieden. Zwei Jahre und ein Monat sind vergangen, seit ihr bester Freund und Kollege bei einem Einsatz erschossen wurde, in dem er sie vertreten hat. Anderthalb Jahre lang hat Martin versucht, sich in ihr Leben zu drängen, sie herauszulösen aus dieser Distanz, mit der sie sich seit Patricks Tod mehr umhüllt denn je. Zuerst hat Martin geglaubt, Patrick und sie seien ein Paar
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