Der Wald ist schweigen
sie überzeugt, dass da etwas ist. Eine Bewegung, das Aufblitzen einer Taschenlampe vielleicht. Reiß dich zusammen, Diana, du siehst Gespenster. Das Handy. Vielleicht hat es doch etwas mit dem Mord zu tun. Was, wenn es dem Toten gehörte? Oder seinem Mörder? Ich hätte es dieser Kommissarin geben sollen, denkt sie frustriert. Warum bin ich stattdessen damit zum Sonnenhof gefahren? Bloß wegen dieses Zeichens, Om. Und wegen des Namens. Darshan. Je länger sie darüber nachdenkt, desto sicherer ist sie, dass sie diese Darshan sogar schon einmal gesehen hat. Eine flüchtige Erinnerung. Eine junge Frau mit blonden Zöpfen, weiten Röcken und einem Gesicht, das Widerstände einfach weglacht.
Aber wie komisch dieser Vedanja herumgedruckst hat, wie er das Handy an sich gerissen hat und nicht mehr hergeben wollte. Was weiß er über diese Darshan, das er lieber für sich behalten möchte? Was hat er zu verbergen? Ronja hat genug vom Garten, sie drängt sich an Diana vorbei zurück ins Wohnzimmer. Diana folgt ihr. Morgen fahre ich zum Sonnenhof und rede noch mal mit diesem Vedanja, beschließt sie. Ich bitte ihn, mir das Handy zurückzugeben, wenn er diese Darshan noch nicht erreicht hat. Oder die Polizei zu informieren. Und wenn er das nicht tut, mach ich das.
Wieder glaubt sie, in dem schwarzen Waldhang ein Licht zu sehen. Das ist zu viel – sie muss hier raus. Was sie braucht, ist Abwechslung, die Geborgenheit in der Anonymität einer überfüllten Kneipe, ein paar steife Drinks und laute Musik. Vielleicht einen Mann, mit dem sie für eine Nacht vergessen kann. Die Erkenntnis ist eine Befreiung. Sie kann etwas tun, sie kann diese Geister verscheuchen, die sich so hartnäckig bei ihr einzunisten drohen. Zumindest kann sie ihnen für eine Nacht entkommen. Ganz hinten in ihrem Kleiderschrank findet Diana ein knielanges Batikkleid mit schmaler Taille, tiefem Dekolleté und weiten Ärmeln, das sie über die Jeans zieht, ein Seidentuch, das sie zum Stirnband macht, und die afrikanischen Armreifen mit den Perlen. Sie mustert ihr Spiegelbild kritisch. Ihr Outfit entspricht vielleicht nicht gerade der gängigen Mode, aber für das, was sie vorhat, wird es genügen. Sie schiebt mehrere Kondome, Führerschein, Personalausweis und zwei 50-Euro-Scheine in die Hosentasche.
Als sie im Auto sitzt, zwingt sie sich, nicht in den Rückspiegel zu sehen, sondern ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf den holprigen Fahrweg zu richten, der im Lichtkegel der Autoscheinwerfer auf sie zuzugleiten scheint. Sie hat Ronjas Winseln ignoriert und das Forsthaus sorgfältig abgeschlossen. Es ist das erste Mal, dass sie die Hündin über Nacht allein im Forsthaus lässt, aber es ist zu spät, sie zu Laura auf den Sonnenhof zu bringen und außerdem war Ronja gerade erst ausgiebig im Garten und morgen früh wird Diana pünktlich zu ihrer gewohnten Joggingrunde wieder da sein. Im Handschuhfach findet sie eine alte Musikkassette aus den 8oern, die aus irgendeinem Grund diverse Umzüge und Lebensphasen überdauert hat, ohne jemals zu leiern oder Bandsalat zu produzieren. »Goin’ out tonight«, singt Chi Coltrane. Wie passend, denkt Diana und dreht die Lautstärke hoch. Die B 55 taucht vor ihr auf, leer und dunkel. Auf einmal fühlt sich Diana leicht. Sie lenkt den Jeep auf die Landstraße und fasst das Lenkrad fester. Wie die Pilotin eines Raumschiffs kommt sie sich vor. Sie schaltet in den fünften Gang. Chis rauchiger Soul katapultiert den Jeep durch die Nacht.
***
Etwas ist anders in ihrer Wohnung. Judith steht in ihrem unaufgeräumten Wohnzimmer und sieht sich um, den Ledermantel, den sie gewohnheitsmäßig abgestreift hat, als sie den Flur betrat, hält sie noch in der Hand. Martin, denkt sie und merkt, wie ihr heiß wird. War er hier und hat auf sie gewartet? Hat sie wieder einmal eine Verabredung vergessen? Sie hat ihn immer noch nicht angerufen, nie schien die Zeit richtig dafür, und wenn doch, hat sie nicht gewusst, was sie ihm sagen soll. Ich vermisse dich, lass uns weitermachen wie bisher? Welchen Sinn hat es, das zu sagen? Das will er nicht, das hat er unmissverständlich klar gemacht, am letzten Wochenende. Und er ist weiß Gott nicht der erste Lebenspartner einer Polizistin, der das Handtuch wirft. Sie will nicht darüber nachdenken, dass es um etwas anderes geht als das. Zeitlupenartig langsam hängt sie den Mantel an die Garderobe. Wie oft ist sie niedergeschlagen heimgekommen und dann war er da für sie. Sie sehnt sich
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