Der Wald ist schweigen
gewesen, dann, dass sie sich das zumindest gewünscht hätte. Alle glauben das, weil sie nicht aufhören kann, ihn zu vermissen. Aber so war es nicht, so ist es nicht. Sie fühlen sich schuldig, weil er Sie vertreten hat in jener verhängnisvollen Nacht. Natürlich tun Sie das, jeder würde das tun. Lassen Sie uns darüber sprechen, hat der Psychologe gesagt, zu dem Millstätt und der Polizeiarzt sie genötigt haben. Aber sie hat nicht darüber sprechen wollen, ist einfach aufgestanden und hat den Nikolausbärtigen Psychoheini in seinem abgewetzten Sessel sitzen lassen. Zu den verabredeten Folgeterminen ist sie gar nicht erst hingegangen.
Vielleicht fühlt sie sich tatsächlich schuldig. Wie sonst ist ihr idiotisches Verhalten gegenüber Juliane Wengert zu verstehen? Und all diese nächtlichen Alpträume, in denen sie wieder und wieder zu spät kommt, egal, wie sehr sie sich auch anstrengt. Doch selbst wenn es so ist, denkt sie trotzig, was sollte es nutzen, darüber zu reden? Schuld und die daraus folgenden Konsequenzen – das ist etwas, womit, in der einen oder anderen Form, jeder zurechtkommen muss. Damit muss man leben. Damit kann man leben. Ganz anders verhält es sich mit dem Verlust eines Freundes.
Sie hatte Patrick in einer Jura-Vorlesung an der Uni kennen gelernt. Sie waren 21, ganz am Anfang, beide neu in Köln, beide kompromisslos in ihrem Streben nach Gerechtigkeit. Aber das war es nicht allein. Aus irgendeinem Grund, den sie bis heute nicht erklären kann, hat Patrick von Anfang an etwas in ihr berührt, und umgekehrt war es genauso. Mit Patrick war es leicht, ihrer Kindheit, dieser nicht enden wollenden Periode von Schulwechseln und dem konstanten Gefühl, nicht dazuzugehören, auch komische Seiten abzugewinnen. Wie er, der Bergarbeitersohn aus Hückelhoven, der trotz aller Widerstände seiner Umgebung neben der Lehre unter Tage noch das Abendgymnasium besucht hatte, hatte auch Judith gelernt, ihre Verletzlichkeit mit Zynismus zu kaschieren. Doch wenn sie zusammen waren, hatten sie das nicht nötig. Sie konnten vollkommen ernsthaft und aufrichtig über Einsamkeit, Musik, Sex, Träume, Ängste, Peinlichkeiten und Politik sprechen. Dann wieder ergötzten sie sich an ihrem schwarzen Humor. Standen ketterauchend und Kölsch trinkend in irgendeiner Kneipe und zogen über ihre Kommilitonen her, die ja so unendlich kindisch waren, im Vergleich zu ihnen selbst.
Außerdem war Patrick einer der wenigen Männer, der sich für Judiths leidenschaftliches Engagement im Frauenhaus interessierte und sich nicht bedroht fühlte, wenn sie in langen Monologen gegen selbstgefällige Machos wütete, gegen Frauenhasser und Frauenschläger, gegen die Ungerechtigkeiten des Paragraphen 218. Und gegen Frauen, die gar nicht merkten, wie sehr sie sich erniedrigten, wenn sie ihr Verhalten und ihr Outfit jenen Normen unterwarfen, die Werbung und Medien ihnen als »Weiblichkeit« vorgaukelten. Und Patrick hörte nicht nur zu: Er verstand ihre Wut und teilte sie.
Ein paar Mal waren sie schließlich miteinander ins Bett gegangen, weil ihnen das zunächst als einzig logische Konsequenz ihrer Innigkeit erschien. Es war eine angenehme Erfahrung – beinahe spielerisch, sehr vertraut und natürlich –, aber sie merkten schnell, dass es darum gar nicht wirklich ging in ihrer Freundschaft, und mit einer Weitsicht, die ihr Alter bei weitem überstieg, beschlossen sie, ihre Freundschaft nicht durch weitere erotische Versuche auf die Probe zu stellen, sondern sie einfach zu leben.
Und so hatten sie es gehalten. Gemeinsam hatten sie sich durch die Klausuren ins Hauptstudium gebüffelt, hatten sich beieinander ausgeweint über diverse Liebschaften, sich füreinander gefreut, wenn es gut lief. Sie waren zu Pfingsten mit Patricks VW-Bus an die Nordsee gefahren, mal zu zweit, mal zu viert. Im siebten Semester hatte Patrick dann das Jurastudium geschmissen, um zur Polizei zu gehen. Er war überzeugt, dort mehr für die Gesellschaft tun zu können als in einer Anwaltskanzlei. Zeitgleich hatten sie in Köln ihr Examen gemacht, Judith an der Uni, Patrick an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung. Sie hatten sich nicht mehr so oft gesehen in dieser Zeit, aber das war nicht wichtig, denn wenn sie sich trafen, war sofort die alte Verbundenheit wieder da. Zwei Jahre später folgte Judith Patrick dann zur Kriminalpolizei, frustriert von ihrem Rechtsreferendariat am Amtsgericht. Es folgten weitere Jahre, in denen sie sich nur selten sahen,
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