Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
Vom Netzwerk:
Judith arbeitete bei der Sitte, Patrick bei der Drogenfahndung in Düsseldorf. Und dann waren sie Kollegen geworden: Im Kriminalkommissariat ii in Köln, jener Abteilung des Polizeipräsidiums, die bei der Bevölkerung Mordkommission und im Amtsjargon Leichensachbearbeitung heißt.
    Damit hatte wieder eine neue Phase ihrer Freundschaft begonnen. Wie in den ersten Jahren sahen sie sich nun täglich, manchmal arbeiteten sie sogar in einem Team. Zuerst machten die Kollegen hin und wieder anzügliche Bemerkungen, aber das legte sich bald. Irgendwann wurde Patrick zum stellvertretenden Teamleiter befördert, aber auch das änderte nichts an ihrer Freundschaft. Sie dachten, sie hätten das Leben im Griff. Obwohl ihr Beruf sie täglich mit dem Tod konfrontierte, glaubten sie, sie selbst seien immun dagegen. Manchmal gingen sie nach der Arbeit in die Kneipe, gelegentlich mit ihren Kollegen. Selbst Judith fühlte sich im KK II dazugehörig, verbunden, geborgen. Sie achtete nicht auf Überstunden. Sie arbeitete gründlich und verließ sich auf ihre Intuition, so wie sie es während ihres Studiums als Nachtwächterin im Frauenhaus gelernt hatte – und der Erfolg gab ihr Recht. Axel Millstätt, im Präsidium ohnehin bekannt als Frauenförderer, wurde auf sie aufmerksam, die Beförderung schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Alles war perfekt. Bis zu jenem Sonntagabend, als Judith Bereitschaft hatte und mit den ersten Symptomen einer Grippe kämpfte.
    Es war reiner Zufall, dass sie genau in jenem Moment, als ihr Diensthandy klingelte, in Patricks Wohnung stand. Sie hatte mit ihm und seiner Freundin Kaffee getrunken. Wäre der Anruf nur fünf Minuten später gekommen – wie oft hatte sie das gedacht. Aber so war es nicht. Gerade wollte sie sich verabschieden und hielt schon die Jacke in der Hand, als sie das Gespräch entgegennahm, zuhörte und unwillig stöhnte.
    Das war’s dann mit dem Erkältungsbad. Irgendein irrer hat seine Schwiegereltern erschossen, jetzt bedroht er Frau und Kinder. Sieht so aus, als gäbe das eine scheißlange und scheißkalte Nacht.
    Lass mich das übernehmen, du siehst wirklich fertig aus.
    Quatsch, ich nehm’ ein Aspirin, das gebt schon. Lass du mal lieber Sylvia nicht allein.
    Sylvia will sowieso nachher noch eine Freundin treffen, mach dir darüber keine Sorgen. Komm schon, Judith, ich übernehme heute für dich – und dafür machst du meine Schicht am ersten Advent. Da hat Sylvias Mutter Geburtstag.
    Wenn das so ist – okay, danke, gerne. Mir geht es wirklich nicht besonders gut.
    Worte, achtlos dahingesagt. Wie oft hat sie sich seitdem gewünscht, sie zurücknehmen zu können. Doch so funktioniert das Leben nicht. Sie hatte Patrick zum Abschied noch nicht einmal richtig umarmt, weil sie ihn nicht anstecken wollte. War frierend zu ihrem Auto geeilt und hatte sich selbst bemitleidet, weil ihr der Hals wehtat.
    Zwei Stunden später wurde Patrick erschossen, während sie in der Badewanne lag. Sein Tod hat eine Lücke in ihr Leben gerissen, eine klaffende Wunde, die einfach nicht aufhören will zu eitern. Nur manchmal, wenn sie mit Martin in ihrer Küche gesessen hat, auf der Dachterrasse oder im Sommer unten am Rhein, wenn sie sich an ihn lehnte und sein Lachen an ihrem Rücken vibrierte, hat es sich so angefühlt, als könne diese Wunde doch verheilen. Im nächsten Moment hat sie sich dann jedesmal furchtbar erschreckt. Weil das Leben zu fragil ist für etwas so Fundamentales wie Glück.
    Sorgfältig löst Judith Martins Hausschlüssel von ihrem Schlüsselbund und steckt ihn in einen wattierten Umschlag. Bereits während ihrer Grundschulzeit hatte sie gelernt, eine gewisse Distanz zu wahren, damit der Abschied nicht so wehtut. Viele Jahre später hat sie für Patrick eine Ausnahme gemacht, ohne auch nur darüber nachzudenken. Hätte sie das nicht getan – niemals hätte sein Tod dieses Loch in ihr Leben reißen können. Sie klebt den Umschlag zu und adressiert ihn, zündet sich eine Zigarette an. Eine letzte, verspricht sie sich, und dazu ein letztes Bier. Sie muss versuchen zu schlafen, damit sie sich am nächsten Tag auf ihre Arbeit konzentrieren kann. Ihre letzte Chance. Sie legt den Briefumschlag auf die Kommode im Flur, damit sie ihn am Morgen nicht vergisst. Die Freundschaft mit Patrick war ein Experiment in Sachen Nähe, das gescheitert ist. Niemand kann von ihr erwarten, es zu wiederholen.
     
    ***
    In Köln stellt Diana den Jeep auf einen Parkplatz in der Nähe der

Weitere Kostenlose Bücher