Der Wald ist schweigen
zielstrebig, so bedingungslos ist er. Laura, meine Göttin. Warum hat Andi sie nicht so begehrt? Oder hat er das, und sie hat es einfach nicht gemerkt? Immerhin, das Begehren des anderen hat ihr etwas Wichtiges gezeigt: Wer begehrt wird, hat Macht. Und je mehr er sie begehrt hat, desto stärker hat sie sich gefühlt. Auch Andi hat das schließlich gemerkt.
Laura klettert aus ihrem Zimmerfenster auf das flache Vordach, setzt sich an die Hauswand und dreht eine Zigarette. Natürlich hat sie Jey nicht erzählt, dass sie Andi noch trifft. Und jetzt wird sie es ihm erst recht nicht mehr sagen. Ihr Vater ist verschwunden. Andi ist tot. Ihre Mutter interessiert sich sowieso nur für ihren neuen Typen. Sie muss sich anstrengen, sie darf Jey nicht auch noch verlieren.
»Laura?«
Seine Stimme. Sie drückt die Zigarette aus und steht auf.
»Ich bin hier.«
»Komm rein.« Er streckt den Arm aus, hilft ihr durchs Fenster.
»Schau, was ich gekauft habe. Massageöl.«
Er hält ihr ein Fläschchen hin. Sie nimmt es, dreht den Deckel auf.
»Mmh, wonach riecht das?«
»Sandelholz. Der Duft der Zärtlichkeit. Zieh dich aus.«
Ihr Herz beginnt zu rasen. »Ich weiß nicht. Ich bin schon so müde.«
»Das ist Massageöl, Laura. Ich will dich massieren. Ich hab nicht gesagt, dass ich mit dir ficken will.«
Sie zuckt zusammen. Warum redet er so? Warum klingt seine Stimme auf einmal so hart? Aber im nächsten Moment ist die Spannung verflogen. Er nimmt sie in die Arme, streichelt ihr Haar, vergräbt sein Gesicht an ihrem Hals.
»Laura, meine Göttliche. Seit Tagen bist du schon so abweisend. Magst du mich nicht mehr? Hab ich dir irgendwas getan?«
Vorsichtig krault sie seinen Nacken. »Nein. Entschuldige bitte, Jey. Es ist nur …«, was soll sie sagen, »es ist nur, manchmal fühle ich mich so allein, weißt du, manchmal vermisse ich meine Mutter.«
Er zieht ihr das Sweatshirt aus, das T-Shirt, macht sich an ihren Jeans zu schaffen.
»Es ist ja auch wirklich gemein, dass sie dich hierhin abgeschoben hat, Laura. Und trotzdem: Ich bin froh darüber.«
Er zieht ihr die Jeans von den Hüften. Wie eine Puppe lässt sie ihn gewähren. »Meine Mutter war eine Hure«, sagt er. Und wieder klingt seine Stimme hart. »Eine Hure. Als ich klein war, hat sie es nur am Telefon getrieben.« Er hebt die Stimme. »Ja, ja, gib’s mir, ja, komm spritz mich voll. Aaah!« Er kniet sich hin, hilft Laura aus den Jeans. »Du weißt schon, diese superbilligen Klischee-Porno-Nummern. Sie hat sich in der Küche eingeschlossen und gekocht oder gebügelt, wenn sie diese Telefonate führte, und es hat lange gebraucht, bis ich überhaupt verstanden hab, was sie da tat. Später hat sie dann auch Freier mit heimgebracht. Einmal hab ich sie überrascht, auf dem Küchentisch. Es war ihr nicht mal peinlich.«
»Wie schrecklich.«
»Ist lange vorbei. Weißt du, man muss sein Leben selbst in die Hand nehmen. Es bringt nichts, sich immer nur an seinen Alten abzuarbeiten, zu wünschen, dass sie irgendwas anders gemacht hätten, zu hoffen, dass sie sich ändern.«
Oder dass sie wiederkommen, ergänzt Laura stumm. Vielleicht hat er Recht. Sie muss endlich aufhören, auf ihren Vater zu warten. Und sie kann sehr gut ohne ihre Mutter leben. In ein paar Monaten wird sie 18. Volljährig. Erwachsen.
»Leg dich auf den Bauch, Laura.«
Sie gehorcht, vergräbt den Kopf im Kissen. Er braucht nicht zu sehen, dass sie weint.
Seine Finger streichen über ihr Rückgrat, liebkosen ihre Muskeln, die Schultern, den Po, die Beine. Der Duft von Sandelholz hüllt sie ein. Süß und weich und tröstlich. Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als sie sich schließlich auf den Rücken dreht. Sie öffnet die Augen nicht. Seine Hände und der Duft des Öls tragen sie fort in eine Welt, die vollständig ist, in der Verlust ersetzt ist durch Geborgenheit. Seine Finger umkreisen jetzt ihre Hüftknochen, wandern zum Bauchnabel, beinahe bis zu den Brüsten. Laura öffnet die Augen.
»Schlaf mit mir«, flüstert sie.
Donnerstag, 6. November
»Sie haben uns nicht gesagt, dass Sie eine Jagdhütte im Bergischen Land besitzen.«
»Ich besitze keine Jagdhütte.«
Manni Korzilius unterdrückt einen Seufzer. Wie viele Vernehmungen dieser Art hat er in den letzten Tagen schon geführt? Zu viele. Und was noch schlimmer ist: Mit äußerst magerem Ergebnis. Für einen Augenblick sieht er überdeutlich vor sich, wie er den zerkratzten Resopaltisch des Vernehmungsraums zur Seite tritt,
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