Der Wald ist schweigen
Meditationen stumm auf ihrem Kissen, nimmt am Yoga-Unterricht teil, versteckt sich so gut es geht vor Vedanjas aufdringlichen Blicken, füttert die Schafe und treibt sie auf die Weide, hilft in der Schreinerwerkstatt, führt mittags den Löffel mit Dal zum Mund, obwohl sie keinen Appetit hat und sowieso nichts schmeckt, ebenso gut könnte sie einen Brei aus Pappmaché löffeln. Andi ist tot. Das Foto, das die Polizei am Samstag in den Speisesaal gehängt hat, hat Lauras schreckliche Ahnung in Gewissheit verwandelt. Laura kennt dieses Foto nur zu genau. Sie weiß, dass es in der Vitrine in Andis Wohnzimmer stand, dass sie es in der Hand gehalten und um einen Abzug gebettelt hatte, bitte Andi, nur damit ich dich angucken kann, wenn ich abends einschlafe, ich zeige es auch bestimmt niemandem. Da hatte er sie an sich gezogen und ihr ins Ohr gepustet und geflüstert ich schau, was ich machen kann, Süße, aber aus irgendeinem Grund, den sie nun nie erfahren wird, hat er das dann nicht geschafft.
Und sie ist schuld daran. Sie hat ihn totgeliebt. Totgeliebt, weil sie wieder und wieder seit jenem schrecklichen Nachmittag, als seine schrecklich coole, schrecklich arrogante Frau Andi und sie beim Vögeln im Wohnzimmer überrascht hatte, darauf bestanden hat, dass sie sich trotzdem weiter treffen. Nein, sie war nicht bereit, bis zu ihrem 18. Geburtstag zu warten. Sie hat sich damit abgefunden, dass sie bis dahin im Sonnenhof leben wird und nichts verraten darf. Andi zuliebe, nicht etwa ihrer Mutter, die so getan hat, als sei sie ehrlich entsetzt und wolle ihr helfen und lasse Laura nur ungern gehen. Sie hat versucht, sich zu arrangieren, hat sogar die Affäre mit Jey begonnen, teils aus Trotz und verletzter Eitelkeit, dass Andi sich nicht öffentlich zu ihr bekennen wollte, teils weil er wieder und wieder die Vorzüge der freien Liebe gepredigt hat. Und trotzdem haben Andi und sie sich weiterhin gesehen. Sie wollte es so und hat seine Angst vor seiner Frau nicht ernst genommen. Ein bisschen hat sie sogar darauf spekuliert, dass alles rauskommt, schließlich hat Andi oft genug gesagt, dass er seine Frau nicht mehr liebt. Was hatte er also zu verlieren? Was hatte sie, Laura, zu verlieren? Auf ihre alte Schule wollte sie sowieso nicht zurück und Andi würde bestimmt locker eine andere Stelle finden, falls das überhaupt nötig würde. Schließlich ist er einfach ein toller Lehrer.
War, korrigiert sie sich stumm. War, war, war. Andi ist tot. Und du bist schuld daran. Die Polizei hat auch ein Foto von Andis Frau im Sonnenhof gelassen. Das hängt jetzt neben Andi im Speisesaal, und jedes Mal wenn sie dort langgehen muss, versucht Laura daran vorbeizugucken, weil sie das nicht aushält: Andi neben dieser scheinheiligen Kuh mit ihrem Porzellanteint. Andi neben seiner Mörderin. Im ersten Moment hat sie gedacht, dass sie die Polizei anrufen muss, sagen, dass Andi bestimmt in eine Falle getappt ist. Dass er sich vor seiner Frau gefürchtet hat, weil sie kalt und böse ist. Aber dann hat sie nachgedacht und eingesehen, dass ihr nichts anderes bleibt, als zu schweigen. Denn wie soll sie von Andis Frau sprechen, ohne zu offenbaren, dass sie, Laura, der Grund ist, warum er ins Schnellbachtal kam – mit Ausnahme dieses allerletzten Mals? Sie hat Andi versprochen, dass sie ihr Verhältnis geheim halten wird, und jetzt, wo er tot ist, ihretwegen tot ist, darf sie dieses Versprechen erst recht nicht brechen. Was sonst kann sie schon noch für ihn tun?
Am schlimmsten sind die Nächte. Wenn die Dunkelheit kommt und es nichts mehr zu tun gibt und sie vor dem Schweigen im Aschram in ihr Zimmer unter die Kopfhörer ihres Walkmans flüchtet. Wenn Jey sich zu ihr schleicht und sie so merkwürdig ansieht und sie ihm nicht sagen kann, wie traurig sie ist und warum. Zuerst war das mit Jey nur ein Spiel, ein verbotener Tanz mit dem Feuer, den sie einfach ohne nachzudenken genossen hat. Tantra. Sehr erwachsen, sehr cool ist sie sich vorgekommen. Es hat gut getan, nicht immer nur darauf zu warten, dass Andi ihr endlich eine SMS schickt. Seit es den anderen Mann in ihrem Leben gab, hat sie sich nicht mehr so gefürchtet vor den Momenten, wenn sie den Berg zum Forsthaus hinaufgestiegen ist, nur um festzustellen, dass Andi ihr wieder nicht geschrieben hatte. Sie hat sich nicht mehr so sehr mit der Frage rumgequält, ob Andi sie womöglich doch nicht liebt oder ob er eine andere hat. Bei Jey hat sie sich so eine Frage nie stellen müssen. So sicher, so
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