Der Wald ist schweigen
Juliane Wengert packt und ohrfeigt, damit ihre makellos geschminkte Fassade endlich zerbricht. Was ist mit dieser Frau nur los? Warum kann sie nicht einsehen, dass sie verloren hat? Oder – sollte sie dann doch irgendetwas wissen, was zu ihrer Entlastung beiträgt – zumindest für sich argumentieren? Aber es ist wie Armdrücken – keinen Zentimeter gibt Juliane Wengert freiwillig nach. Selbst ihr Anwalt sieht zuweilen verzweifelt aus. Und jetzt steht die nächste Runde an: Behaupten, leugnen, widerlegen, leugnen, beweisen – ein unendlich zähes und mühseliges Vorwärtstasten. Aber wenn sie es so will, denkt er müde. Er jedenfalls hat nicht vor aufzugeben. Mit einem kalten Lächeln wirft er einen Schlüsselbund auf den Tisch und genießt, wie sich die Augen der Wengert im Wiedererkennen weiten.
»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, dass dieser Schlüsselbund aus ihrer Villa stammt – und dass die Schlüssel zu einer Jagdhütte im Bergischen passen.«
»Ein Ferienhaus, keine Jagdhütte. Das Ferienhaus meines Onkels.«
»Ferienhaus, von mir aus. Aber ein Ferienhaus, zu dem Sie jederzeit Zutritt hatten. Und in dem es mehrere Jagdgewehre gibt.«
»Und?«
»Ich vermute, dass eines dieser Jagdgewehre fehlt, eine Schrotflinte, Kaliber 16. Haben Sie eine Idee, wo die sein könnte?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich habe dieses Haus von meinem Onkel geerbt, aber es ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt dort war.«
»Ah, ja?«
Ein schneller Seitenblick zu ihrem Anwalt. »Andreas hat die Hütte manchmal benutzt, glaube ich, als Stützpunkt für seine Motorradtouren.«
»Warum haben Sie uns das nicht gesagt?«
»Ich habe nicht daran gedacht.«
»Ihr Mann wird ermordet, wenige Kilometer entfernt von ihrer Jagdhütte, und Sie haben nicht daran gedacht, die Existenz dieser Hütte zu erwähnen? Was haben Sie eigentlich noch alles vergessen?«
Schweigen.
»Sie besitzen einen Jagdschein.«
»Eine Art Jugendsünde. Ist das etwa der Grund, dass Sie mich hier festhalten?«
»Ich will Ihnen sagen, warum Sie das verschwiegen haben. Weil Sie Ihren Mann erschossen haben. Sie wollten ein Jagdwochenende in ihrer Hütte verbringen, aber etwas lief schief. Da haben Sie ihn gezwungen, auf den Hochsitz zu klettern – mit dem Motorrad sind Sie dorthin gefahren, einen Motorradführerschein haben Sie ja auch, und von der Jagdhütte zum Tatort sind es nur 13 Kilometer – und als Ihr Mann auf dem Hochsitz im Schnellbachtal war, haben Sie ihn dann erschossen. Anschließend haben Sie die Tatwaffe verschwinden lassen und das Motorrad versteckt.«
»Das sind doch alles Unterstellungen. Meine Mandantin war …«
»Ja, ja, ich weiß, an ihrem Schreibtisch und hat eine Konferenz vorbereitet. Aber dafür gibt es keinen Beweis – oder haben Sie inzwischen einen Zeugen?«
Jetzt kneifen sie beide die Lippen zusammen, Juliane Wengert und ihr arroganter Rechtsverdreher.
Der Anwalt fasst sich als erster. »Wie kommen Sie eigentlich darauf, zu behaupten, dass die Tatwaffe aus dem Ferienhaus meiner Mandantin stammt?«
»Im Waffenschrank gibt es Lücken.«
Albrecht Tornow schnaubt. »Juliane, wie viele Gewehre waren in dem Schrank, als du das letzte Mal in der Hütte warst?«
»Ich weiß es nicht genau, zwei oder drei – ja drei, glaube ich. Mein Onkel war ein Waffennarr, aber einige seiner Gewehre habe ich nach seinem Tod an seine Freunde verschenkt und verkauft.«
»Gut. Das lässt sich ja sicher rekonstruieren, falls Kommissar Korzilius das wünscht.« Der Anwalt macht keinen Hehl daraus, dass ihm dies eine persönliche Freude sein wird. Mit übertriebener Beflissenheit wendet er sich Manni zu.
»Um dieses Prozedere etwas zu vereinfachen, könnten Sie uns vielleicht sagen, wie viele Gewehre Sie in Frau Wengerts Ferienhaus vorgefunden haben?«
»Drei.« Es kostet Manni einiges an Überwindung, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Aber natürlich heißt das gar nichts. Es kann ja durchaus sein, dass Frau Wengert sich mal wieder nicht korrekt erinnern kann.«
»Oder dass jemand anderes ein Gewehr entwendet hat.« Manni erwidert nichts und Albrecht Tornow nickt zufrieden. Er weiß, dass dieser Punkt an ihn geht.
Manni steht auf. Zu schade, dass die Bodenproben von Juliane Wengerts Wanderschuhen nicht vom Tatort stammen. Aber irgendetwas werden sie noch finden, das weiß er einfach, und der Tag ist noch lang. Vielleicht ist Staco-Steff ja heute wieder von der Grippe genesen und knackt die Wengert’schen Mailboxen.
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