Der Wald ist schweigen
Wecker klingelt, ist die Hündin immer noch nicht aufgetaucht. Still und übernächtigt fährt Diana eine blasse und verweinte Laura zurück zum Sonnenhof. Auch dort keine Spur von Ronja.
»Ich hatte gehofft, sie wäre hier«, sagt Laura leise zum Abschied. »Ich mach mir solche Vorwürfe.«
»Geh jetzt zu eurer Meditation, damit du keinen Ärger kriegst.«
Später kann Diana nicht mehr sagen, warum sie den Jeep nicht direkt zurück zum Forsthaus lenkt, sondern den Umweg über den Erlengrund macht. Ist es Hoffnung? Instinkt? Der Versuch, Dämonen zu bekämpfen, indem sie ihnen geradewegs in die Arme läuft? Sie denkt nicht darüber nach, handelt einfach, mit einer emotionslosen Entschlossenheit, die keinen Raum lässt für ein Zögern. Im Strahl der Autoscheinwerfer wirkt der Erlengrund unwirklich. Diana steigt aus.
»Ronja?«
Ein Winseln, aber nicht das Trappeln flinker Hundepfoten im nassen Laub. Irgendwo fiept eine Feldmaus, am Himmel steht ein grünliches Band Morgenlicht zwischen den Wolken. Diana läuft los, dorthin, wo sie das Winseln vermutet, geradewegs über die Lichtung zum Hochsitz.
Das Winseln kommt von oben.
Nicht wieder diese Leiter. Nicht wieder den Blick auf etwas, was ich nicht ertragen kann. Aber Dianas Körper hat schon für sie entschieden und sie klettert hinauf. Und oben ist Ronja. Festgebunden, unversehrt und überglücklich, ihre Herrin zu sehen. Diana probiert gar nicht erst, ob ihre Beine sie tragen. Sie lässt sich neben Ronja auf den Boden sinken.
Es riecht nach frisch geschnittenem Holz. Vorgestern haben die Waldarbeiter das neue Dach und die Sitzbank fertig gestellt. Nichts erinnert mehr an den Toten. Ganz allmählich kriecht die Dämmerung durch die Schießscharten, so dass Einzelheiten sichtbar werden. Astlöcher. Die Botschaften an den Holzwänden. Diana beginnt zu lesen. »L & A« in einem Herz. »Betty, ich liebe dich.« ; »Meli was here.« Daten und Initialen, belanglose Nettigkeiten. Aber direkt über der Sitzbank steht noch etwas anderes, in dunkelroten Druckbuchstaben. Etwas, das ihr noch nie aufgefallen ist und das ihren Puls unwillkürlich beschleunigt, auch wenn es sicher nicht an sie gerichtet ist. »ICH KRIEG DICH, DU SCHLAMPE.«
***
Wenn sie schläft, fällt Judith ins Bodenlose. Der Wald ist kahl. Bleichgefrorenes Gras zerbricht lautlos unter den Hufen des weißen Pferdes, das nicht mehr ihr Freund ist, sie nicht mehr auf seinem Rücken duldet, sondern für immer, so scheint es, vor ihr flieht. Irgendwo höhnt eine Stimme Niederlage. Um sieben Uhr wacht sie auf, obwohl ihr Wecker nicht geklingelt hat, und stellt sich unter die Dusche. Eine innere Uhr treibt sie aus dem Bett, vielleicht auch der verzweifelte Versuch, ihrem Traum ein Ende zu bereiten. Sie sitzt rauchend und Milchkaffee trinkend auf der Wohnzimmerfensterbank und sieht zu, wie zwei fette Tauben auf dem gegenüberliegenden Dach umeinander herumtrippeln, als ihr Handy Spread your wings fiedelt.
»Frau Krieger?«
»Ja?«
»Diana Westermann hier. Die Försterin aus dem Schnellbachtal. Ich habe versucht, Sie im Präsidium zu erreichen, aber man sagte mir, Sie seien nicht da.«
»Ich habe Urlaub.« Leerlauf würde es besser treffen. Leerlauf, Ödnis, no way out. Endlose Minuten, die sich zu bleiernen Tagen aufaddieren, ein einziger Fluch. Nie hat sich freie Zeit so sinnlos angefühlt.
»Ach so.«
Etwas an der Art, wie die Försterin dies sagt, lässt Judith aufhorchen.
»Warum wollen Sie mich denn sprechen?«
Diana Westermann stößt einen Laut aus, der sich mit etwas gutem Willen als Lachen interpretieren lässt.
»Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen durcheinander. Ich weiß nicht genau, ob ich Gespenster sehe – aber da sind diese Anrufe. Seit längerem schon. Und letzte Nacht ist mein Hund plötzlich verschwunden. Das hat wahrscheinlich gar nichts mit diesem Mord zu tun. Aber ich fühle mich bedroht. Mit Ihrem Kollegen komme ich, ehrlich gesagt, nicht so gut klar, deshalb wollte ich gerne mit Ihnen sprechen.«
Ich bin raus aus dem Fall. Mein Kollege Manfred Korzilius kann Ihnen aber sicher eine andere Beamtin vermitteln, wenn Sie das wünschen. Judith bringt es nicht über sich, das zu sagen. Stattdessen durchsucht sie einen Stapel unbezahlter Rechnungen und Zeitungen, die sich auf dem Küchentisch über einem aufgerissenen Paket bröseligen Toastbrots zu einem unästhetischen Haufen türmen, nach ihrem Füller und dem Notizbuch, das Mobiltelefon fest ans Ohr gepresst.
»…
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