Der Wald ist schweigen
Seit dem Sommer. Ja, irgendwann im August fing das an.«
»Also mehr als zwei Monate vor dem Tötungsdelikt, in dem wir ermitteln.« Von wegen »wir«.
»Das spricht doch eigentlich dafür, dass da kein Zusammenhang besteht, nicht wahr?« Eifrig, beinahe flehentlich klingt das.
»Es sieht so aus, ja. Auch wenn wir im Moment nichts definitiv ausschließen können.«
Natürlich ist das nicht die Antwort, die Diana Westermann hören will, sie sieht unzufrieden aus, beißt sich auf die Unterlippe. Was will sie eigentlich von mir, überlegt Judith. Am Telefon klang sie so beunruhigt, aber seit ich da bin, gibt sie sich alle Mühe, das, was sie ängstigt, herunterzuspielen.
Die Försterin räuspert sich. »Wer tut so etwas? Einen Hund entführen? Jemanden mit Anrufen terrorisieren?«
»Ich weiß es nicht. Oft sind es verschmähte Liebhaber. Es kann auch ein Jungenstreich sein. Oder tatsächlich eine Drohung. Es gibt keine Regel. Sie können bei der Telekom eine Rufermittlung beantragen, die Kosten dafür müssen Sie allerdings selbst tragen. Vielleicht können Sie auch eine Weile woanders übernachten, wenn Sie sich hier in diesem einsamen Haus unsicher fühlen?«
»›Geh nicht allein in den Wald‹ – darauf läuft es hinaus, nicht wahr? Aber das können Sie vergessen, ich kann jetzt im Herbst unmöglich Urlaub nehmen. Und ein Antrag bei der Telekom, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?«
»Ich fürchte, zum jetzigen Zeitpunkt doch.«
Eine unbehagliche Stille tritt ein.
»Haben Sie wirklich keine Ahnung, wer dahinter stecken könnte?«
Die Försterin schüttelt den Kopf.
»Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass das nicht stimmt.«
Diana Westermann verschränkt die Arme vor ihrem Bauch und starrt demonstrativ an Judith vorbei aus dem Fenster. Für eine Weile ist das Ticken der Küchenwanduhr das einzige Geräusch in der Küche.
»Da ist noch etwas anderes«, sagt die Försterin schließlich. »Wahrscheinlich ist es ganz und gar bedeutungslos und hat nichts mit diesen Anrufen zu tun, oder mit dem Mord.«
»Ja?«
»Ich habe ein Handy im Wald gefunden. Es sah so aus, als hätte es schon eine ganze Weile dort gelegen. Ich habe es im Sonnenhof abgegeben, weil dieser Name draufstand. ›Darshan‹. Aber seitdem überlege ich, ob es ein Fehler war, es nicht Ihnen zu geben.«
»Wo haben Sie dieses Handy gefunden? Doch nicht am Erlengrund?«
»Nein, natürlich nicht. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Stelle.«
Zwanzig Minuten später rutscht Judith zwischen nassen Fichten hinter der Försterin einen Steilhang herunter. Rechts plätschert etwas, ein Bach vermutlich, der jedoch unter allerlei dornigem Gezweig und fetten Farnen verborgen ist. Es nieselt unaufhörlich. Behände wie ein Äffchen springt Diana Westermann mit ihren Gummistiefeln über knotige Baumwurzeln und bemooste Äste. Judith hat keine Chance, mit ihr mitzuhalten. Sie fühlt, wie sich die Nässe in ihre Turnschuhe saugt und die Hosenbeine heraufkriecht. Ein Ast peitscht ihr ins Gesicht, sie stolpert und unterdrückt einen Fluch.
»Hier ist es.« Die Försterin geht abrupt in die Hocke und zeigt auf etwas. Ein verblichener violetter Stofffetzen, der neben dem Bachlauf im Brombeergestrüpp hängt.
»Hier an diesem Hang ist Ronja das erste Mal verloren gegangen. Als ich am nächsten Morgen nochmal herkam, bin ich zufällig auf das Handy getreten und dann habe ich diesen Stofffetzen gesehen.«
Judith sieht sich um. Nichts als nasse Bäume und Gestrüpp. Oben auf der B 55 dröhnt ein Lastwagenmotor.
»Jemand kann von der Straße hier heruntergeklettert sein, vielleicht um Brombeeren zu pflücken, oder um zu pinkeln.«
Die Försterin zieht eine Landkarte aus der Tasche ihres Parkas. »Ja, das habe ich auch erst gedacht.«
»Aber?«
Diana Westermann hält Judith die Landkarte hin. »Wir stehen ziemlich genau hier, sehen Sie, etwas oberhalb des Schnellbachtals. Da ist der Bach und hier die B 55, wo wir gerade geparkt haben. Der nächste Wander- und Reitweg verläuft hier, westlich, gute zwei Kilometer entfernt. Und dort sind die Fahrwege zum Sonnenhof, zum Forsthaus und zum Erlengrund. Bis dahin sind es etwa drei Kilometer.«
Es ist zu nass, um eine Zigarette zu drehen. Judith zündet sich eine Benson & Hedges an und inhaliert tief. Sie beginnt zu ahnen, worauf die Försterin hinauswill.
»Vielleicht kam jemand von der Straße und hat eine Abkürzung ins Schnellbachtal gesucht? Der Bach bietet immerhin eine gewisse Orientierung.«
»Der Bach
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