Der Wald ist schweigen
viel Zeit ist vergangen? Ihm wird bewusst, dass Laura schon seit einer ganzen Weile redet und immer noch weiterplappert wie ein Kind, das Angst hat, dass, sobald es schweigt, etwas Fürchterliches passiert. Und etwas Fürchterliches kann ja auch passieren, wenn man aufhört, sich zu lieben oder mit der Liebe spielt. Er packt Lauras Handgelenke, und wegen der Art, wie sie erschrocken die Augen aufreißt, taucht für Sekunden ein anderes Gesicht vor ihm auf. Ein Gesicht, das ihn angelacht hat, bis … Schnell zieht er Laura an sich, liebkost sie, streichelt sie, flüstert ihr all die Namen ins Haar, die er für sie erfunden hat. Seine Königin, seine Göttin, die ihm das Schicksal geschickt hat, noch einmal geschickt hat. Nein, er kann nicht zulassen, dass er sie verliert. Nicht sie. Nicht auch noch sie.
»Du erzählst deiner Försterin doch nichts von uns?«, fragt er, als sie sich geliebt haben. Er hat sie doch noch glücklich gemacht und jetzt sind sie wieder nah miteinander, so nah, wie es richtig ist. Er küsst sie sanft auf den Hals, genießt, wie ihre Hand in seinem Brusthaar spielt.
»Bist du verrückt? Natürlich erzähle ich Diana nichts von uns. Niemandem. Versprochen ist versprochen.«
»Und von Andreas?«
Stille, als ob sie aufhört zu atmen. »Nein.«
Etwas Heißes, Feuchtes auf seiner Haut.
»Du hast ihn geliebt.«
»Ich weiß nicht. Nein.«
»Warum weinst du dann?«
»Ich wein doch gar nicht.« Sie presst sich dichter an ihn. »Ich wüsste nur gern, warum Andi überhaupt auf diesem Hochsitz war. Was er da wollte.«
Er hört nicht auf, sie zu liebkosen.
»Ich wünschte, ich wüsste das«, flüstert sie, schon halb im Schlaf.
Oh nein, da täuschst du dich, kleine Laura. Ich bin sicher, das willst du nicht wissen. Er liegt ganz still und starrt an die Zimmerdecke, wo die Kerzen Schatten tanzen lassen.
***
Sie wacht davon auf, dass die Tür leise ins Schloss gezogen wird. Schlaftrunken dreht sie sich auf die Seite und tastet neben sich. Er ist fort. Warum lässt er sie nachts so oft allein, wo er doch sonst nicht genug von ihr bekommen kann? Vielleicht ist er nur zur Toilette gegangen. Laura liegt in der Dunkelheit und zählt ihre Atemzüge. Er kommt nicht zurück. Wo ist er hingegangen, mitten in der Nacht? Sie schlüpft in ihre Fleecejacke und öffnet das Fenster. Es hat aufgehört zu regnen, die kühle Nachtluft riecht würzig nach Erde und Laub. Alles ist still. Die Erinnerung kommt plötzlich: Sie hat vergessen, noch einmal nach den beiden kranken Schafen zu sehen. Sie hätte ihnen noch einmal die Tropfen geben müssen. Warum ist sie so unzuverlässig, warum hat sie sich ablenken lassen?
Im Stall ist es warm und kuschelig. Sie atmet den süßen Geruch von Heu und Tier, versorgt die beiden Patienten, froh, dass sie unter ihrer Nachlässigkeit offenbar nicht gelitten haben. Aus der Nische neben dem Fenster holt sie die Blechdose, die sie als Aschenbecher benutzt, setzt sich neben Fridolin, den altersschwachen Leithammel, auf einen Strohballen und raucht, sorgfältig darauf achtend, dass von der Asche nichts auf die Spreu fällt. Wo mag er sein, ihr geheimer, nächtlicher Freund? Warum bleibt er nicht bei ihr? Er will sie doch nicht auch verlassen?
Ob sie Andi geliebt habe, wollte er wissen. Sie hat sich nicht getraut, die Wahrheit zu sagen. Warum nicht? Warum ist sie so eine verdammte, feige Verräterin, warum lässt sie alle im Stich? Nicht einmal auf Ronja kann sie aufpassen oder auf die Schafe. Sie fühlt, wie ihr wieder die Tränen in die Augen steigen. Anfangs hat Andi sie geliebt, und sie ihn. Dann hat seine Frau alles kaputtgemacht. Wie ein lästiges Hündchen, das um die Aufmerksamkeit seines Herrn betteln muss, hat sich Laura seitdem gefühlt. Und sie hat gebettelt. Um ein paar Stunden Liebe alle paar Wochen, auf einem zugigen Hochsitz im Wald. Geschieht ihm recht, wenn ich mit einem anderen vögele, hat sie schließlich gedacht. Und irgendwann, bald, war sie gar nicht mehr so sicher, ob sie Andi noch liebte. Trotzdem hat sie immer noch jeden Tag darauf gewartet, von ihm zu hören. Heimlich, damit der andere es nicht merkt, damit sie ihn nicht verletzt. Vielleicht hat ihre Mutter ja doch Recht, wenn sie sagt, dass Andreas nur ein Vaterersatz war, ein Vaterersatz, nach dem sie süchtig war. Jeden Tag hat sie ihre SMS abgefragt, seit sie im Sonnenhof lebte. Wie kann es sein, dass er auf dem Hochsitz saß, ihrem Treffpunkt, ohne dass sie davon wusste?
Sie kontrolliert ein
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