Der Wald ist schweigen
das ist natürlich etwas anderes, weil Jungs in den allermeisten Fällen nun einmal auf jüngere Mädchen stehen. Er versucht sich an seine Klassenkameradinnen zu erinnern. Für irgendeinen Lehrer haben sie immer geschwärmt, klar, und auf den Schulpartys waren die älteren Jungs und die Sitzenbleiber immer interessanter als er und seine gleichaltrigen Kumpels. Den Frust darüber haben sie auf den Partys hinter lautstarken Rüpeleien verborgen und mit Apfelkorn betäubt. Er mustert die 18-Jährige, die ihm gegenübersitzt. Hübsch ist sie ohne Frage, mit ihren Rehaugen, den dunklen Ponyfransen und den runden Brüsten, die sich unter einem knappen, mit rosa Strasssteinchen besetzten T-Shirt abzeichnen. Und gleich wird sie ihm alles sagen, was er noch wissen muss, um Juliane Wengert endgültig überführen zu können.
Und das haben sie sich wirklich redlich verdient, schließlich haben sie in den letzten Tagen mehr als genug unergiebige Vernehmungen mit Schülerinnen geführt. Bis sie am Nachmittag endlich auf die Richtige trafen. Ein etwas dickliches Mädchen, die typische Außenseiterin, die schwor, sie habe Tanja Palm, die allseits beliebte Sprecherin der Jahrgangsstufe zwölf, dabei beobachtet, wie sie mit Andreas Wengert herumknutschte. Manni räuspert sich und wirft einen schnellen Blick auf den Anfänger, der den Kuli angriffslustig über dem Notizbuch schweben lässt. Was für ein Fortschritt, dass er neuerdings jemanden an seiner Seite hat, der dies für ihn erledigt.
»Also, Tanja, euren Sport- und Englischlehrer, Andreas Wengert, fandet ihr alle richtig klasse, stimmt’s?«
Die Andeutung eines Nickens.
»Aber für dich war er mehr als nur ein Lehrer?«
Jetzt strömen Tränen aus den runden Rehaugen. »Er war so süß!«
Warum glauben junge Frauen nur immer, dass ›süß‹ ein Adjektiv ist, mit dem sich Männer gern beschreiben lassen? »Ihr hattet was miteinander, nicht wahr?«
Noch mehr Tränen. Hoffentlich halten die Eltern den Mund, denkt Manni. Aber die scheinen ziemlich cool zu sein. Die Mutter legt tröstend einen dünnen Arm um ihr einziges Kind, der Vater reicht ein gebügeltes weißes Taschentuch. Schöne, heile Margarine-Welt.
»Also Tanja – ich darf doch du sagen? –, du weißt, dass jemand Andreas Wengert umgebracht hat, und du willst doch sicher, dass der Täter bestraft wird?« Oder die Täterin. »Du kannst uns dabei sehr helfen, indem du alles erzählst, was du weißt, ja?«
Schluchzen.
»Ihr hattet etwas miteinander, das hat uns eine Schülerin erzählt. Sie hat euch zusammen gesehen.«
»Wir wollten das niemandem sagen. Wer hat uns denn gesehen? Wir haben so aufgepasst!«
Manni unterdrückt einen Seufzer. »Bestimmt würde dein Lehrer wünschen, dass du der Polizei hilfst. Also, seit wann wart ihr zusammen?«
Es ist eine vollkommen durchschnittliche und klischeebeladene Teenieromanze, die Tanja Palm unter noch mehr Tränen hervorstammelt. Wie süß Andreas Wengert war, wie lieb, wie er sie immer angesehen hat, mit diesem besonderen Blick, als das neue Schuljahr begonnen hatte, wie gut sie miteinander reden konnten, über wirklich alles, wie er unter seiner Frau gelitten hat, die immer nur ihren Job im Kopf hatte und ihn insgeheim verachtete, weil er nicht so reich war wie sie. Wie anständig er war. Nie hätte er sie zu etwas gedrängt, aber was sollten sie tun, es war nun einmal Liebe, von beiden Seiten. Seit September hatten sie sich dann hin und wieder nachmittags in der Turnhalle getroffen.
»Und wenn seine Frau verreist war, hat er dich zu sich nach Hause eingeladen.«
»Nein, nie. Wir haben uns immer nur in der Schule getroffen.«
»Komm, Mädchen, denk noch mal nach. Ihr seid gesehen worden.«
»Aber das kann nicht sein. Ich war nicht da. Bestimmt nicht. Ich wollte ja, aber Andi hat gesagt, das ist zu gefährlich.«
Und dabei bleibt Tanja, so sehr Manni auch bohrt. Auch die Möglichkeit, dass Juliane Wengert von dem Verhältnis gewusst habe, bestreitet sie energisch.
»Nun gut.« Manni steht auf. Er war so sicher, dass diese Vernehmung der entscheidende Durchbruch sein würde, und nun treten sie doch wieder auf der Stelle. Aber nicht mehr lange. Er deutet auf ein Foto von Tanja, das auf der Fensterbank steht. »Ich würde das gern mitnehmen.«
Tanjas Vater schenkt Manni ein schmallippiges Lächeln. »Um die Aussage meiner Tochter zu widerlegen, nehme ich an?«
»Um sie zu überprüfen.«
»Nur zu, nehmen Sie das Foto! Sie werden sehen, dass meine Tochter
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