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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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noch gut daran erinnern, dass der Weg ohne Vorwarnung ganz einfach aufhörte. Auch Olga spürte wieder dieses Ziehen in den Beinen, das den schauerlichen Abgrund ankündigte.
    Plötzlich war er da. Direkt vor ihnen tat sich das ungeheuerliche Loch auf, diese riesige, nie verheilte Wunde des Waldes. Olga konnte nur noch auf allen vieren weiter. Thorvald hatte sich ebenfalls auf den Bauch gelegt und war den letzten Meter gekrochen, ein höchst gefährliches Unterfangen, denn die letzten Meter bis zur Kante waren so abschüssig, dass man sich kaum halten konnte.
    Thorvald bedeutete Olga, hinter ihm zu bleiben, und gab ihr das Gewehr. Dann hakte er sich mit dem Fuß an einer jungen Birke fest, die schräg aus dem Boden wuchs, und rutschte langsam bis zur Kante vor. Die Rutschbahn in die Hölle.
    »Mannomann!« Er schob sich noch ein klein wenig vor. »Das ist ja schlimmer als die düstersten Prophezeiungender Edda.« Er seufzte schwer, dann setzte er Romans Nachtglas an. »›Weder Sand noch See, nicht Erde unten noch Himmel oben. Endloser Abgrund, Gras aber nirgendwo!‹«
    Langsam suchte er den verschwenderisch beleuchteten Hof am Fuße des Steinbruches ab. Roberts U S-Army -Dodge stand direkt vor der Tür seines Hauses am Rande der gegenüberliegenden Felswand, die den großen Platz bis auf eine kleine Öffnung für die Durchfahrt umgab. Überall standen Fahrzeuge herum, noch intakt oder bereits zerlegt. Ganz rechts in der Ecke lagen Einzelteile vorsortiert auf riesigen Haufen. Türen, Motorhauben, ganze Motoren. Langsam zogen Olga und Thorvald sich wieder zurück und setzten sich in sicherer Entfernung auf einen umgestürzten Baumstamm.
    »Hier kommen wir nie runter«, sagte Olga. »Wir können nur unten durch das Tor gehen, bei Robert klingeln und ihn fragen, ob er zufällig Benno einkassiert hat.« Olga stützte das Kinn auf die Hände. »Glaubst du wirklich, dass Benno sich hier versteckt hält? Er hätte sich doch mit uns in Verbindung gesetzt. Irgendwie. Und er hätte sein Handy nicht weggeworfen.«
    Thorvald war wieder aufgestanden und auf den Hügel gestiegen, der einige Meter vom Rand des Abgrunds entfernt lag. Still stand er da oben und schaute dem Licht nach. Dann begann er, sich langsam im Kreise zu drehen. Der weiße Lichtkegel stach wie ein Leuchtturmlicht von seinem Kopf in die umliegenden Büsche und ließ die glatten und nackten Stämme der Buchen einen Sekundenbruchteil aufleuchten.
    »Benno!«
    Sein Ruf verlor sich im Geäst der Bäume. Ein kleines Tier raschelte im vertrockneten Laub.
    Dann war es wieder so still, als hielte der ganze Wald zusammen mit seinen Bewohnern in seinem nächtlichen Treiben inne und lauschte den beiden hilflosen Menschenwesen, die da ohne Ziel und Orientierung umherwanderten.
    Reglos stand Thorvald auf dem Hügel, wie ein versteinerter Wächter der Finsternis. Er lauschte und wartete.
    Wohin, wohin, wohin seid ihr entschwunden?
    o Jugendzeit, o Liebesglück?
    Thorvald wusste nicht, was er noch tun sollte. Olga hockte noch immer zusammengekauert auf dem Baumstamm. Die Angst und die Sorge um ihren Freund, diese verteufelte Hilflosigkeit und die Wut darüber, hatten sie mutlos gemacht.
    Da reichte der Anfang von Lenskis Arie aus, ein seltsames dunkles Empfinden in den Tiefen ihrer Seele anzurühren. Getragen von dem schalen Gefühl der Unzulänglichkeit, lähmender Mittelmäßigkeit, beflügelt von heißer Todessehnsucht.
    Was wird der nächste Tag mir bringen?
    Vergebens such ich es zu schauen.
    Verborgen ist die Zukunft mir,
    ich frage, was das Schicksal will?
    Der Morgen bringt vielleicht den Tod mir,
    vielleicht bleibt mir der Sonne Licht.
    Von Gott kommt, alles wie’s auch sei!
    Er lenkt das Gestern und das Heute,
    er sendet uns des Tages Pracht,
    er sendet uns die dunkle Nacht.
    Thorvald hatte diese Gabe, um die ihn Olga so beneidete. Er war in der Lage, das Seelendrama zu überwinden, alles Leid der Welt in wenige Töne zu legen und auf seiner Stimme hinauszutragen.
    Dann herrschte wieder dumpfe, einsame Stille. Die Absurdität der ganzen Situation wurde deutlicher denn je. Was sollte das alles bringen? Thorvald drehte sich wie ein Leuchtturmlicht.
    »›Mjölnir!… Thor!… schleudere deinen Hammer gegen das Böse!‹«
    Olga stieß einen Seufzer aus und wartete, was sich Thorvald noch alles einfallen ließ. Der hatte mittlerweile auch die Nase voll und holte tief Luft.
    »Verdammt, Benno!… Komm raus, du Idiot!«
    Als ein Blitz über den Himmel zuckte und den

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